„Die Sicherung der Staatsgrenze der DDR zur Bundesrepublik und der Grenze zu Westberlin am 13. August 1961 ist in diesen Tagen ein die Medien beherrschendes Thema. Verunglimpfungen und Fälschungen bestimmen Inhalt und Ton. Von der damals akuten Kriegsgefahr ist keine Rede. Die immensen ökonomischen Schäden für die DDR werden verschwiegen. Der Wühltätigkeit westlicher Geheimdienste und sogenannter Menschenrechtsorganisationen werden humane Ziele angedichtet. Das damals mit Faschisten regierte Westdeutschland wird als Hort der Demokratie dargestellt. Ein kaum zu überbietendes Märchenbuch – dem gemeinen Volke als unumstößliche westliche Wahrheit verkündet.“ So kommentierte Hans Bauer, Vorsitzender der Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung (GRH), in den aktuellen Mitteilungen des Vereins den Umgang der bürgerlichen Medien mit dem 60. Jahrestag des sogenannten Mauerbaus (grh-ev.org)
Anlässlich des Datums sprach UZ mit Günter Ganßauge, Oberstleutnant a. D. der Nationalen Volksarmee der DDR, der direkt beteiligt und mehr als 20 Jahre mit der Sicherung der deutsch-deutschen Grenze befasst war. Ganßauge war unter anderem Leiter des Informationszentrums, das die DDR am Brandenburger Tor eingerichtet hatte, um die Staatsbesucher über die Anlagen zur Grenzsicherungen zwischen der Hauptstadt der DDR und Westberlin zu informieren.
UZ: Herr Ganßauge, wie sind Sie zu den Grenztruppen der DDR gekommen und welche Aufgaben hatten Sie dort?
Günter Ganßauge: Ich bin Jahrgang 1929. Meine Mutter musste drei Kinder großziehen – und wenn das nicht klappte, gab es Prügel. So war meine Kindheit. Als meine Mutter erfuhr, dass Mitglieder der Hitlerjugend eine Uniform bekamen, sagte sie: „Geht dahin, dann habt ihr wenigstens etwas anzuziehen.“
1946 habe ich meine Berufsausbildung als Klempner und Installateur abgeschlossen. Ich wohnte in einem kleinen Dorf bei Dresden und war als Sportler aktiv. Die Jugendarbeit, also die FDJ, lag dort am Boden und kam nicht hoch. Deswegen haben der Bürgermeister und andere mit mir gesprochen, ob ich nicht die FDJ unterstützen könnte. Da habe ich mich dahintergeklemmt und bin dann 1946 ehrenamtlicher Arbeitsgebietsleiter geworden, 1947 wurde ich in den Kreisvorstand der FDJ gewählt. 1948 wurde ich Abteilungsleiter, gleichzeitig Leiter des Kreissportlerausschusses.
Dann ging es zum „Deutschen Sportausschuss“. Dort war ich in der Westabteilung, habe in der Bundesrepublik unter dem Motto „Deutsche an einen Tisch“ gearbeitet. Ich war die meiste Zeit in München und im Ruhrgebiet. Zu der Zeit hat man mich im Westen dreimal festgenommen, aber ich kam wieder raus – man konnte mir nichts nachweisen.
UZ: War das nach dem Verbot der FDJ in Westdeutschland?
Günter Ganßauge: Das war noch vorher. Wenn ich beim Parteivorstand der KPD in Düsseldorf war, standen die staatlichen Spitzel in jedem Hausaufgang und beobachteten alles. Ich habe die Freiheit der Bundesrepublik miterlebt. Es wurde dann entschieden: „Es hat keinen Zweck – bevor du wie andere eingesperrt wirst: Schluss.“
Ich ging zurück in die DDR, nach Berlin. Da habe ich mich freiwillig zur Polizei gemeldet. Ich bin im Juli eingestellt und im November auf einer Parteiversammlung zum Hauptwachtmeister befördert worden. Am 1. Dezember 1952 wurde ich als Kaderinstrukteur in die Inspektion Lichtenberg versetzt und am 1. Januar war ich dort schon Kaderleiter. 1953 wurde ich Parteisekretär in Lichtenberg. Dann bin ich zwei Jahre auf die Polizeischule gegangen, zurückgekommen bin ich Ende 1957.
Anschließend wurde ich im Präsidium zur Anleitung der Bereitschaften, die die Grenze gesichert haben, eingesetzt. Später wurde ich Politstellvertreter des Sicherungskommandos Berlin – das war das Kommando der Polizei, das die gesamte Grenze im Stadtgebiet zu sichern hatte.
UZ: Sie waren also von Anfang an mit dabei. Was geschah im Vorfeld der Grenzsicherung?
Günter Ganßauge: Am 3. und 4. Juni 1961 fand in Wien das Treffen von Nikita Chruschtschow mit John F. Kennedy statt, auf dem Kennedy erneut das Angebot eines entmilitarisierten Berlin ablehnte. Die Ankündigung von Chruschtschow, dass dann die Sowjetunion Maßnahmen zur Grenzsicherung einleiten würde, nahm der US-Präsident zur Kenntnis. So ist die Entscheidung gefallen.
Ursprünglich war vorgesehen, die Grenze mit Stacheldraht zu sichern. Diese Art Grenzsicherung hat einen Riesenvorteil: Man sieht, was auf der anderen Seite passiert. Die Mauer brachte immer mit sich, dass wir Schwierigkeiten hatten zu sehen, was dahinter los war. Wir mussten dann teilweise näher an die Grenze ran mit unseren Postentürmen als uns lieb war.
Von Anfang 1961 an übte die Armee, Stacheldrahthindernisse aufzubauen. Die logistischen Vorbereitungen verliefen konspirativ. Im Rahmen des Wohnungsbauprogramms wurden die Betonpfähle nach Berlin gebracht. Übrigens: Fast die Hälfte des Stacheldrahts, den wir gebraucht haben, hat die BRD geliefert.
In der Nacht des 13. August 1961 war ich an der Grenze unterwegs – die Situation war ja mehr als kompliziert. Mir ging es darum, im Zentrum – Brandenburger Tor, Potsdamer Platz und so weiter – dafür zu sorgen, dass alles reibungslos ablief.
UZ: Wie sah denn der Potsdamer Platz nach dem Krieg aus? Heute ist das ja ganz anders.
Günter Ganßauge: Der Potsdamer Platz – da kannten sich nur wenige aus. Das „Haus Vaterland“ ging nach Westberlin rein, fast 500 Meter. Gehörte uns, war aber eine Ruine. Auf der anderen Seite befand sich die Linkestraße, wo das Postamt war – gehörte auch uns. Dann ging es wieder zurück zum Potsdamer Platz, da war die eine Straßenseite unsere, die andere war Westberlin. Wenn man aus der U-Bahn herauskam auf die Potsdamer Straße, war man mit dem ersten Schritt schon in Westberlin. Ein kleines Stück vom Potsdamer Platz entfernt befand sich ein Jugendheim in Westberlin. Das hat uns reichlich Probleme gemacht. Wenn die Jugendlichen dort einen Zehner kriegten, haben sie ordentlich randaliert auf dem Platz. Das mussten wir – mit begrenzten Mitteln – natürlich unterbinden, konnten dann aber wieder einmal vom Westen in den Senkel gestellt werden: „Guckt es euch an, wie die gegen die armen jungen Leute vorgehen.“ Berlin war ein ganz kompliziertes Pflaster.
UZ: Was sprach dafür, im August 1961 die Grenze dichtzumachen?
Günter Ganßauge: Das fängt mit dem Potsdamer Abkommen der vier Siegermächte an. Es ist niemals irgendwo festgelegt worden, dass Westberlin kein Teil der Sowjetischen Besatzungszone ist. Festgelegt war aber, dass bis zur Erfüllung der wesentlichen Aufgaben des Potsdamer Abkommens Berlin von allen vier Mächten besetzt wird.
Westberlin wurde systematisch als Stützpunkt ausgebaut – nicht nur militärisch. Als Westberlin in die Währungsreform einbezogen wurde, war klar: Der Westen macht ernst – Westberlin soll abgespalten werden. Das Abkommen, das danach geschlossen worden ist, wurde ja niemals umgesetzt. Die Sowjetunion hat sich daran gehalten und die Blockade aufgehoben – der Westen hat gesagt, für uns ist die Sache erledigt.
Die zweite Seite war die Spionagetätigkeit, Diversion und Zersetzung. Wir haben in der Zeit von Juni 1960 bis Juli 1961 über 4.000 Leute festgenommen, die aus Westberlin eingeschleust wurden. Es gab in Westberlin alle möglichen westlichen Geheimdienste – ein Zentrum der gegen den „Osten“ gerichteten Spionagetätigkeit. Die offene Grenze machte es möglich, nicht nur in die DDR, sondern bis nach Moskau und überall hin Leute einzuschleusen.
UZ: War nicht auch die Abwanderung von Menschen ein großes Problem?
Günter Ganßauge: Der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhard hat einmal sinngemäß gesagt: „Wozu sollen wir Geld für Ausbildung ausgeben? Die werden in der DDR genauso gut ausgebildet wie bei uns und wir brauchen sie nur zu holen.“ Diese Leute waren manchmal noch nicht ganz fertig mit Ausbildung oder Studium und hatten schon einen BRD-Vertrag in der Tasche. Da spielte auch der ärztliche Eid keine Rolle mehr, der dazu verpflichtet, Patienten zu helfen. Viele sind abgehauen und haben alles liegen gelassen für die Versprechungen aus dem Westen. In Westberlin war das besonders ausgeprägt – die Stellenangebote lagen überall aus. Die Wirklichkeit entsprach aber nicht den rosigen Versprechungen: Kein von uns nach Westberlin gegangener Mediziner wurde als Arzt eingestellt, sondern immer nur als Assistenzarzt – der war nie voll anerkannt, obwohl unsere Leute zum großen Teil besser ausgebildet waren als die im Westen. Das alles hat den Staat jeweils tausende, zehntausende von Mark gekostet. Die Ausbildung war ja kostenlos in der DDR.
Währungsreform und Berlin-Blockade
1948 wurde in den westlichen Besatzungszonen eine Währungsreform durchgeführt. Im Vorfeld konnte unter den Siegermächten keine Einigung über deren Durchführung erreicht werden. Zugesichert wurde deshalb, dass die Westsektoren Berlins davon nicht berührt würden. Auf die westliche Währungsreform musste auch in der Sowjetischen Besatzungszone reagiert werden. Kurzfristig wurde auch in Westberlin die D-Mark eingeführt und die Stadt damit wirtschaftlich gespalten. Die Sowjetunion reagierte darauf mit der Blockade der Land- und Wasserwege in die BRD. Obwohl die sowjetische Militäradministration die Versorgung Westberlins zusagte, wird bis heute das antikommunistische Märchen der Rettung Berlins durch die US-amerikanische „Luftbrücke“ verbreitet.
UZ: Es gab also eine ganze Reihe von Faktoren.
Günter Ganßauge: Man muss das immer alles zusammen sehen. Bei den ganzen Problemen spielte das Kräfteverhältnis eine große Rolle. Wichtig war natürlich auch die damalige Überlegenheit des Westens hinsichtlich der nuklearen Rüstung – die USA hatten ja schon in Hiroshima und Nagasaki gezeigt, dass sie diese Waffen auch einsetzen würden.
UZ: Konnte die DDR überhaupt mitreden bei der Frage der Grenzsicherung?
Günter Ganßauge: Wir waren abhängig von der Sowjetunion. Ich habe das Protokoll des Gesprächs zwischen Chruschtschow und Walter Ulbricht am 2. August in Moskau. Chruschtschow sagte: „Gut – 14 Tage gebe ich euch, und in der Zeit ist die Grenzsicherung zu machen.“ Ulbricht wollte die Bevölkerung vorbereiten. Chruschtschow wollte das nicht, das bringe bloß Unruhe und mache die ganze Geschichte noch schwieriger. Kennedy hat übrigens nicht umsonst gesagt: „Wir haben uns gewundert, dass die Mauer nicht viel eher gebaut wurde.“
UZ: Wie ging Ihr persönlicher Weg nach dem Mauerbau weiter?
Günter Ganßauge: Vom 13. August an ging es mit der westlichen „Mauerpropaganda“ los. Die andere Seite hatte einen riesigen vorbereiteten Apparat, dem wir zunächst nichts entgegensetzen konnten.
Ich bekam den Auftrag, eine Einrichtung zu schaffen, die einen Gegenpol zur westlichen „Mauerpropaganda“ bilden sollte. Ich habe dann aufgrund meiner Erfahrungen gesagt, dass der günstigste Standort das Brandenburger Tor sei. Es war notwendig, den Menschen so offensiv wie möglich zu zeigen, wie die Grenze aussieht: hinten die rückwärtige Begrenzung, die rückwärtige Begrenzungsmauer beziehungsweise der Sicherheitszaun, das Grenzgebiet, die vordere Grenze. Am Brandenburger Tor konnten wir Räumlichkeiten einrichten, mussten dabei aber den Denkmalschutz beachten. Wir nutzten die Möglichkeiten in der Nähe, etwa den Bahnhof Friedrichstraße, wo der Grenzübergang für Ausländer und Diplomaten war, wo viele Auseinandersetzungen stattfanden. Die Gedenkstätte für den Grenzer Reinhold Huhn, der 1962 vom BRD-Fluchthelfer Rudolf Müller ermordet wurde, spielte eine große Rolle. Der Spree-Übergang Marschallbrücke war auch in der Nähe. Den Potsdamer Platz hatte ich noch dazu als – wenn man so will – kompliziertesten Teil. Vor allen Dingen zur Zeit der offenen Grenze, da konnte man deutlich machen, was für ein Riesengebiet das war und wie chancenlos zwei Mann, die das damals zu sichern hatten, waren.
UZ: Ihr wart ja aber nicht nur mit Propaganda konfrontiert – gerade in den ersten Monaten.
Günter Ganßauge: Die Hauptauseinandersetzungen hatten wir mit den Amerikanern – das hing zusammen mit der Ankunft von General Lucius D. Clay. Von da an wurden die Provokationen verschärft. Clay hat ja gesagt, Berlin sei immer einen Krieg wert.
Ich vergesse nie den erstmaligen Aufmarsch US-amerikanischer Panzer an der Heinrich-Heine-Straße am 28. August. Als ich ankam, waren die Amerikaner schon wieder abgezogen, die Spuren waren aber noch zu sehen. Ich begann zu dokumentieren. In dem Moment hörten wir, wie sie wieder ankamen. Dann habe ich gesagt: „So – ich stelle mich jetzt auf die Grenzlinie, und wir werden sehen, wie sie sich verhalten.“ Und ich vergesse nie den Hauptwachtmeister, der sagte: „Wenn Sie sich da hinstellen, stelle ich mich daneben.“ Wie die uns gesehen haben, haben sie noch einmal extra aufgedreht. Wir sind natürlich stehen geblieben. Erst im letzten Moment haben die Amerikaner angehalten – sie mussten so scharf bremsen, dass das Kanonenrohr fast bis runter auf den Asphalt geknallt ist. Dann erschien im Turm ein junger Leutnant, schüttelte den Kopf und befahl, zurückzusetzen. Haben sie dann auch gemacht – drei Meter.
Sie sind auch mit Jeeps in unser Gebiet reingefahren, etwa auf dem Boulevard Unter den Linden. Wir haben uns aber auf keine Auseinandersetzung eingelassen – das hätte eine Schießerei geben können und man wusste nie, welche Befehle die Amerikaner hatten. Auch Hubschrauber haben sie eingesetzt. Daraufhin haben die sowjetischen Freunde zwei Batterien Flak aufgestellt und gesagt: „Der nächste, der über die Grenze kommt, fällt runter.“ Die Amerikaner durften zwar die Grenze überfliegen, aber nicht mit aus der Tür ragenden und auf die Leute unten gerichtetem schweren Maschinengewehr.
Nach den Provokationen in der Heinrich-Heine-Straße habe ich dann gefordert, man müsse die Grenze irgendwie markieren. „Na ja“, hat der Polizeipräsident erwidert, „und wie stellst du dir das vor?“ Meine Antwort: „Wir müssen eine weiße Linie ziehen, damit für jeden klar ist, wo die Grenze verläuft.“ Auch das ist in Moskau entschieden worden. Am 6. September habe ich dann die erste Linie in der Friedrichstraße ziehen müssen – oder ziehen dürfen.
UZ: Das hat aber noch nicht zur Entspannung beigetragen. Bis Ende Oktober 1961 hatte sich die Auseinandersetzungen extrem zugespitzt.
Günter Ganßauge: Da gab es den Vorfall an der Friedrichstraße am sogenannten „Checkpoint Charlie“. Kennedy hat Chruschtschow gebeten, die sowjetischen Panzer abzuziehen, damit er das Gesicht nicht verliert. Die Panzer wurden hundert Meter zurückgezogen. Die beiden Batterien standen im Lindentunnel, den viele Leute gar nicht kennen – er war der Überrest einer früher unterirdisch die Straße Unter den Linden querenden Straßenbahnlinie.
Da sollte demonstriert werden: Wir haben hier das Sagen. Wir konnten nur bedingt mitreden. Die Provokationen haben auch dazu beigetragen, dass in Moskau dann entschieden wurde, eine Mauer zu bauen und es eben nicht beim Stacheldraht zu belassen.
General Lucius D. Clay
Von 1947 bis 1949 Militärgouverneur der US-amerikanischen Besatzungszone. Er setzte sich für die Bildung der Bizone aus britischer und US-Zone ein, förderte die exportorientierte Wirtschaftspolitik und die Währungsreform. Wikipedia lobt ihn für die „beschleunigte (…) Demokratisierung in seinem Zuständigkeitsbereich“ – eine krasse Fehleinschätzung. Vielmehr sorgte Clay etwa dafür, dass der Kommunist Emil Carlebach aus der „Frankfurter Rundschau“ entfernt wurde. Überdies wandelte er – ehemalige Nazis wurden perspektivisch wieder gebraucht – etliche gegen faschistische Kriegsverbrecher ergangene Todesurteile in teilweise sehr milde Gefängnisstrafen um. 1961 wurde er von US-Präsident Kennedy wieder in Berlin eingesetzt. Zusammen mit Melvin Lasky entwickelte er das Konzept eines „Kulturellen Kalten Krieges“ auf psychologischer und intellektueller Ebene gegen die Sowjetunion. Bis zu seiner Pensionierung war er Seniorpartner im Investmentbanking von Lehman Brothers.
UZ: Wie hat die Bevölkerung der DDR auf die Grenzsicherung und den Mauerbau reagiert?
Günter Ganßauge: Da muss man unterscheiden. In Berlin hat der überwiegende Teil der Bevölkerung erst mal begrüßt, dass Schluss war mit der Abwanderung. In Westberlin waren 66.000 DDR-Bürger als Arbeitskräfte registriert. Die nicht registrierten, das sind etwa noch einmal so viele gewesen.
Der größere Teil derer, die vorher ihren Arbeitsplatz in Westberlin hatten, hat dann bei uns gearbeitet. Viele DDR-Bürger haben übrigens auch weiterhin in Westberlin gearbeitet. Im Übrigen haben wir Wert darauf gelegt, dass von Bahn und Wasserstraßen – die ja uns gehörten – auch Westberlin profitierte. Wir haben immer dafür gesorgt, dass Westberlin leben konnte.
Die Maßnahmen an der Grenze zur BRD erfolgten vier Wochen später, Anfang September – im Grunde eine Selbstverständlichkeit. Dass es immer Leute gegeben hat, die dagegen waren, Leute, die es auch hart getroffen hat, das ist die andere Seite. Familien wurden auseinandergerissen.
UZ: Hätte sich das Leid solcher Familien vermeiden lassen?
Günter Ganßauge: Wir waren dafür, dass die Menschen aus Westberlin ihre Verwandten besuchen konnten. Wir waren aber nicht dafür, dass unsere Leute rübergingen, weil das immer wieder das Problem der Abwerbung mit sich brachte.
Wir haben Westberlin schon 1961 ein Passierscheinabkommen vorgeschlagen. Es sollten in Westberlin die Anträge gestellt und bei uns bearbeitet werden. Anschließend wären sie nach Westberlin zurückgegangen und die Menschen hätten rüberkommen können. Aber die Passierscheinstellen in Westberlin wurden sofort geschlossen – wer hat nun jetzt wirklich den Besucherverkehr unterbrochen?
Es wird behauptet, mit dem 13. August und dem Mauerbau sei die Stadt gespalten worden. Ich habe am Brandenburger Tor sehr oft Franzosen gefragt: „Was würden Sie sagen, wenn auf der einen Seite der Seine die eine Währung gilt und auf der gegenüberliegenden eine andere – ist das dann eine einheitliche Stadt?“ Die Gegenfrage war, wie das denn gehen solle. „Sehen Sie“, habe ich darauf geantwortet, „aber hier in Berlin war das so. Und daher meinen wir, dass Berlin keine einheitliche Stadt war – es wurde nicht erst durch die Maßnahmen zur Grenzsicherung gespalten, sondern schon lange vorher durch die westliche Seite, vor allem durch ihre Währungsreform.“
UZ: In der öffentlichen Darstellung hört man ja vor allem von den „Mauertoten“. Was können Sie darüber berichten?
Günter Ganßauge: Diesen Aspekt kann man aus dreierlei Sicht betrachten: Es gab die offiziellen Zahlen, es gab die Zahlen Westberlins und dann gab es die an der Friedrichstraße von Rainer Hildebrandts „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“, die aber um ein Vielfaches überhöht waren. Da waren immer Ertrunkene dabei, die mit dem Grenzregime nichts zu tun hatten. Wir haben versucht, das real darzustellen – unter welchen Bedingungen wird geschossen und dass alles versucht wird, das zu vermeiden.
Das Grenzgebiet bestand aus der hinteren Begrenzungsmauer beziehungsweise Sicherungselementen, dann kam der Signalzaun. Hinter dem Signalzaun verlief der Kolonnenweg, wo die Fahrzeuge entlanggefahren sind und wo auch die Posten standen. Dann kam der Zollstreifen, dann meistens ein Hindernisgraben für große Fahrzeuge, dann die vordere Begrenzungsmauer. All dies diente dazu, keine Waffen anwenden zu müssen. Dennoch gab es an der Grenzmauer die meisten Toten. Viele, die es bis dahin geschafft hatten, glaubten, auch die Mauer überwinden zu können. Die Befehle der Grenzer lauteten dann: Aufforderung „Halt, stehenbleiben!“. Reagierte die Person nicht – Schuss in die Luft. Reagierte die Person immer noch nicht, musste scharf geschossen werden. Der Befehl lautete, in die unteren Extremitäten – in die Beine – zu schießen. Aber wenn die Person sich bewegt – kriecht oder klettert –, ist das problematisch.
Über die Toten, die wir hatten, wurde ja in der Regel nicht gesprochen, obwohl man im Fall Reinhold Huhns von Mord reden muss. Mit Peter Göring verhält es sich ebenso. Peter Göring wurde auf dem Posten aus Westberlin beschossen. Er verließ den Postenturm, versuchte sich in Sicherheit zu bringen und lief die Mauer entlang. Dabei wurde dann auf ihn geschossen, ein Schuss ging als Querschläger von der Mauer zurück, Peter Göring wurde getroffen und war tot. Er wurde dann bei uns zum Helden gemacht – er habe ein ganzes Magazin leer geschossen und heroisch gekämpft bis zum Schluss.
Das war falsch, was da gemacht worden ist. Es hilft uns nicht, wenn wir sagen, wir hätten alles richtig gemacht. Das ist Quatsch, das glaubt niemand und es macht uns unglaubwürdig. Es sind Fehler gemacht worden, auch auf unserer Seite, und die muss man eingestehen.
UZ: Welche Folgen hatte die Grenzsicherung auf der politischen Ebene?
Günter Ganßauge: Nach 1961 war man bereit, mit uns zu reden. Erst mit der Sicherung unserer Grenzen haben wir die Möglichkeit erreicht, uns zu entwickeln. Außenpolitisch wurden wir anerkannt und die 1970er-Jahre waren eindeutig eine Zeit der Stabilisierung der DDR. Dazu gehörte dann auch die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1973 bis 1975 in Helsinki und Genf. Wir waren an sich gefestigt genug, um bestimmte Frage zu klären.
Andere Fragen, wie die Reisefreiheit, konnten wir nicht lösen, vor allem weil die Währung der DDR im Westen nicht anerkannt wurde, sondern nur in der DDR getauscht werden konnte. Alles das waren Dinge, die die andere Seite genau wusste. Sie wusste ganz genau, wo unsere Schwächen lagen – und die wurden entsprechend ausgenutzt. Wir konnten uns nur teilweise wehren.
Noch eine selbstkritische Anmerkung: Es gab bei uns ein übertriebenes Sicherheitsdenken. Auch ein General durfte nicht jede Veröffentlichung aus dem Westen sehen. Clays Buch „Entscheidung in Deutschland“, in dem es um Berlin, die „Spaltung“ und den Mauerbau ging, kannte niemand.
UZ: Wie ist Ihr persönliches Fazit?
Günter Ganßauge: Ich habe die DDR mit aufgebaut und mir hat ihre Niederlage sehr wehgetan. Ich habe aber nie aufgehört zu kämpfen und werde so lange kämpfen, wie es geht.