Zur nichtrelevanten Kunst und Kultur

Da stimmt was nicht

Es war schon bemerkenswert, was Bundes- und Landesregierungen versuchten, als sie in der vorletzten Woche den neuen Lockdown zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie verkündeten. Die erste Frage in der Pressekonferenz war, warum Gottesdienste weiterhin erlaubt sind, aber Theater und Kinos schließen müssen. Es gab ein Gestotter, weder Angela Merkel noch Markus Söder konnten begründen, warum Vergleichbares unterschiedlich behandelt wird. Also darf die Bevölkerung in den nächsten Wochen zum Beten gehen, selbstverständlich auch zur Arbeit und zum Shoppen, aber nicht ins Theater oder ins Museum. Das kommt nicht von ungefähr, denn im Verständnis der herrschenden Klasse und ihres Ständigen Ausschusses ist „Kultur“ irgendwas mit Freizeit, Zerstreuung und Unterhaltung, sowas kann ohne großen Schaden für die systemrelevanten Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auf Zeit stillgelegt werden. Auch sind das ja eher „Solo-Selbstständige“, kleine Betriebe oder von staatlichen Fördertöpfen abhängige Einrichtungen, schlecht organisiert und wenig bis gar nicht kampferprobt.

Die Reaktion von Künstlerinnen und Künstlern und allen, die gemeinsam mit ihnen die unterschiedlichen Felder von Kunst „bespielen“, beschränkte sich zumeist auf ungläubiges Kopfschütteln und die üblichen Protestformen. Der Eindruck, dass der herrschenden Klasse Religion viel wichtiger ist als Kunst und Kultur, ist bezeichnend, eigentlich aber verheerend. Diese Verletzung von Grundrechten, die in Artikel 5 des Grundgesetzes beschrieben sind, wird eher klaglos und mit Schulterzucken zur Kenntnis genommen.

Mit dem Schlagwort von der „Systemrelevanz“ ist schon viel Schindluder getrieben worden, 2008/2009 musste es dafür herhalten, Banken und Versicherungen vor der Insolvenz zu schützen, jetzt muss es umgekehrt dafür geradestehen, Kunst und Kultur von gesellschaftlicher Relevanz auszunehmen. Wenn die Kontakte, die in Theatern, Museen und Kinos möglich und wahrscheinlich sind, verboten werden, aber Betriebe, Kitas, Schulen, der ÖPNV und die Konsumtempel offen bleiben, dann ist richtig was faul bei den sicherlich notwendigen Beschränkungen des gesellschaftlichen Lebens bei steigenden Infektionszahlen.

Künstlerinnen und Künstler und alle die, die mit ihnen zusammenarbeiten, müssen aufhören, nur über das faktische Berufsverbot zu jammern, nach staatlichen Hilfen zu rufen – die oft nur jämmerlich und entwürdigend sind – und Solidarität einfordern. Sie sollten vielmehr diese Solidarität unter sich gestalten und öffentlich machen, also ihre mögliche Bekanntheit nutzen, um andere Kolleginnen und Kollegen mitzunehmen bei ihrem Online-Auftritt, oder auch sich dem Spiel zu verweigern, nach jedem kleinen Happen zu schnappen, den ihnen die Bourgeoisie hinhält. Man stelle sich vor, wenn wieder allerhöchstgnädig gesungen, getanzt und gespielt werden darf, wird gestreikt, Bühnen- und Museumsmitarbeiter machen eine kreative Pause und denken über ihre Bedingungen laut und gemeinsam nach und in der Glotze laufen nur noch Endlosschleifen an Wiederholungen. Die Solidarität der „Konsumenten“ von Kunst und Kultur kann dann eingefordert werden, wenn sie mitgenommen werden bei den Protesten und den hoffentlich neuen Inhalten und Formen nach den Schließungen, sonst verfehlen Künstlerinnen und Künstler ihre eigentliche Aufgabe.

Künstler, Kreative und die wenigen in der Kulturpolitik, die nicht wieder einsteigen wollen in die schon lange verfehlte „Normalität“, müssen sich organisieren und stärker zusammenarbeiten als bisher. Gemeinsam müssen sie das Wissen über die gesellschaftliche Relevanz von Kunst und Kultur so gründlich zur Selbstverständlichkeit machen, dass niemand mehr daran vorbeikommt. Wenn die herrschende Klasse die kulturellen und künstlerischen Voraussetzungen, auf denen eine Gesellschaft auch gründet, so politisch beschädigt, müssen Protest und Widerstand sehr viel lauter, gerne auch kreativer und wirksamer werden.

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"Da stimmt was nicht", UZ vom 13. November 2020



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