Meine Corona-Woche (6)

Da staunste

Man hat doch das Gefühl, man kommt den Menschen näher in diesen Zeiten. Da klopft ein Gartennachbar an, der Althippie des Vereins sozusagen. Wir setzen uns abstandhaltend auf einen Espresso hin und er erzählt mir seine Gartengeschichte. Da, wo nun ein Teich ist, war die Laube seiner Eltern. Etwa 1964 – er war 10 Jahre alt – haben sie den Garten abgegeben und Jahre später wurde alles abgerissen wegen Verfalls. Er hat sich Jahrzehnte später dann selber einen Garten im Verein zugelegt. Die nächsten Tage bringt er mir Bilder mit aus den früheren Zeiten. Spannend. Ich hatte mich immer gefragt, warum Garten Nr. 1 ein Teich ist. Wir sind nämlich Garten Nr. 2. Da staunste.

Ansonsten ist so ein Garten Gold. Und in Corona-Zeiten Gold-Platin-Diamant-und-Aktien. Wir bekommen deutlich mehr Besuch als wir dürften und, nachdem wir uns zu sechst (!) im Garten verteilt hatten, war klar, es müssen Regulierungen her. Ab jetzt also mit Termin oder Nummern ziehen, wie beim Arbeitsamt. Nur in Schön. Gartenbro A. explodiert derweil. Also mit Ideen. Legt neue Umrandungen an, baut Hochbeete, siebt Berge von Erde, begrünt das Dach, bastelt an skurrilen Skulpturen. Warum da ein Stuhl samt Hexenbesen im Baum hängt? „Weil er‘s kann?!“ Stimmt auch wieder. Da staunste.

Donald Trump will währenddessen Menschen Desinfektionsmittel spritzen lassen, weil „das ist interessant“. Und den menschlichen Körper mit „einfach starkem Licht“ bestrahlen. „Das ist ziemlich gewaltig“, so seine Meinung. Mein lieber Scholli, ist der Typ kaputt. Und eines Tages wird er sich die Maske runterreißen, ein Mitglied der Monty-Python-Truppe kommt zum Vorschein und verkündet, er hätte jetzt keine Lust mehr auf den schlechten Witz und die bescheuerte Frisur. Da staunste.

Kontaktverbot bedeutet, seine Kontakte zu pflegen, aber auch, mal durchzuschauen, mit wem man denn wirklich was zu tun hat. Und zack, keine 53 Minuten später ist die Liste bei Whatsapp um die Hälfte geschrumpft. P., der mir 2017 zum Geburtstag gratuliert hat? Raus. L., die mich Weihnachten 2018 gefragt hat, wie es mir geht, die Antwort aber nie gelesen hat? Raus. R., der mir ausnahmslos blöde Witze und Videos schickt? Raus. Usw. … Das Glas vom Weizen trennen, nennt man das wohl. Oder so ähnlich.

Wenn ich nicht für die UZ gearbeitet und nicht den Garten verunstaltet habe, war ich mit der Broschüre „20 Jahre Bündnis Dortmund gegen Rechts“ beschäftigt. Fotoordner durchsuchen, alte Zeitungsausschnitte scannen, Reden bearbeiten, Flugblätter sortieren. Und dann alles in eine schöne Druckform bringen. Was – zumindest für mich – als kleines Projekt begann, überschreitet gerade die Seite 100. Da staunste.

Dienstag durchbrach ich mal das einsame Home-Office und fuhr nach Essen. Seltsames Gefühl nach über fünf Wochen. Finde ich die richtige Abfahrt noch? Sind noch alle Kolleginnen und Kollegen da? Schmeckt der Kaffee so schlimm wie früher? Ist Butch, der Firmenhund, weiter auf Mäusejagd im Hof? Haben die Flure unten immer noch diese wundervolle Farbe irgendwo zwischen kräftigem Bundeswehrgrau und zartem Fußnagelumbra? Halten sich die Kolleginnen und Kollegen halbwegs an die Corona-Regeln? Alles ja. Bis auf den letzten Punkt. Ohne Scheiß? Da staunste.

Liebe Leser und -innen: Bleibt gesund. Und tut mir einen weiteren Gefallen: Wenn ihr wieder im Büro anruft, mit dem Handy, mitten aus dem Nirgendwo mit einer Verbindung aus der Hölle: Dreht wenigstens das Einheitsfrontlied ein klein wenig leiser. Weil: Dann versteht man sich besser. Wirklich: Da staunste.

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"Da staunste", UZ vom 1. Mai 2020



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