Die US-Strategie ist die Ursache für Kriege und die Gefährdung der Sicherheit in Europa

Containment – 75 Jahre und kein Ende

Jochen Willerding

Harry S. Truman löste kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs Franklin D. Roosevelt, der im April 1945 plötzlich verstorben war, als 33. Präsident der USA ab. Als Vizepräsident war er in die Kriegsstrategie seines Vorgängers kaum eingeweiht, sollte jedoch die europäische und internationale Nachkriegsordnung maßgeblich mit prägen. Zwei Wochen nach seiner Vereidigung war der Weltkrieg in Europa beendet. Im Juli nahm Truman an der Potsdamer Konferenz mit Josef W. Stalin sowie Winston Churchill beziehungsweise Clement Attlee teil. Schon hier wurde seine Auffassung von der Notwendigkeit eines „Zurückdrängens“ der Sowjetunion deutlich, diente dem doch seine erste, für jedermann sichtbare außenpolitische Aktion: der Einsatz der Atombombe über Hiroshima und Nagasaki – obwohl der Krieg de facto bereits beendet war. Es starben 155.000 Menschen sofort, 90.000 bis 140.000 an den unmittelbaren Folgen, weitere 200.000 bis 1950 an Langzeitfolgen. Also wofür dieses Verbrechen? Es war der zweite Versuch der USA – seit der späten Landung in der Normandie –, den Vormarsch der Roten Armee gegen die faschistische Kriegs­achse zu stoppen. Churchill lieferte am 5. März 1946 mit seiner berüchtigten Rede in Fulton über den „Eisernen Vorhang“ die ideologische antikommunistische und antisowjetische Grundlage für den folgenden Kalten Krieg, der die Macht- und Einflusssphären der Westmächte, besser der USA, und der Sowjetunion von der Ostsee entlang der Elbe bis zum Schwarzen Meer teilen sollte. Die US-Regierung erweiterte diese Konzeption dann um die Strategie der „Eindämmung“ des Kommunismus. Der „Rollback“ war geboren. Wie die darauffolgende Geschichte bestätigte, war stets die Sowjetunion gemeint, und zwar als strategisches Feindbild der USA. Es begann die Ära der Bipolarität zwischen den beiden Weltmächten.

Rollback-Politik

Auch im Fernen Osten „dämmten“ die USA nach dem verbrecherischen Einsatz der Atombomben den Kommunismus zielstrebig ein. Japan und Taiwan wurden wie Westeuropa in vorgelagerte potenzielle Schlachtfelder verwandelt. Guam wurde zum schwimmenden Atomwaffenträger, Südkorea – nach einem verlustreichen Krieg – zu einer US-Basis. Nur in Südostasien wollte dies nicht gelingen. Die USA fuhren gegen den nationalen Befreiungskampf der Vietnamesen ihre erste große Nachkriegsniederlage ein.

Kalter Weltfrieden

Auf der Grundlage der Beschlüsse von Jalta und Potsdam wurden die Vereinten Nationen gegründet, die auf der Grundlage der Bipolarität zwischen den USA und der Sowjetunion das neue Völkerrecht schuf. Letzteres kodifizierte die über 40 Jahre währende Friedensperiode in Europa und weltweit, abgesehen von lokalen militärischen Expansions- und Containment-Bemühungen. Bis heute wird jedoch zumeist übersehen, dass der Vorgänger der UNO, der Völkerbund – wie zugleich das durch ihn geschaffene Völkerrecht –, in dem Moment scheiterte, als durch den deutschen Faschismus das europäische Kräfteverhältnis grundlegend verändert wurde.

Bis 1989 ermöglichten die beiden Pole Sowjetunion und USA durch das anhaltende Kräftegleichgewicht einen „kalten“, aber doch einen Weltfrieden.

Das änderte sich durch den Zerfall der Sowjetunion 1990/91. Dabei übersahen die US-Strategen die Tatsache der inneren Ursachen dieses Zerfalls. Die USA wähnten sich aus eigener Kraft am Ziel der „totalen“ Eindämmung des „Kommunismus“. Der Zerfall Russlands schien in greifbarer Nähe, samt dem langgehegten Ziel seiner territorialen Zerstückelung. Der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher betätigte sich als Sprachrohr der USA und verkündete 1989 die „Weltinnenpolitik“, in der der „Weltpolizist“ seine nationalen Gesetze international in Anwendung bringen würde. Gegenüber dem krisengeschüttelten Russland leistete man sich verbal sogar die „Beendigung“ des Kalten Krieges und sprach von immerwährender Zusammenarbeit in allen Bereichen.

Neues Containment

Mit der Regierung und dann Präsidentschaft Wladimir W. Putins im Jahr 1999 trat Russland in eine Phase der schrittweisen Konsolidierung ein und begann wieder, seine Interessen als souveräner Nationalstaat zu sichern. Und plötzlich war es in den Augen der US-Regierung wieder der „expansive Feind“, stoppte Hillary Clinton den „großen Neuanfang“ und reaktivierte die alte Truman-Doktrin des Containment.

Es zeigte sich, dass der notorische Antikommunismus der USA nicht die alleinige Triebfeder für ihren Antisowjetismus war. Noch in der Zarenzeit, also vor der Großen Oktoberrevolution, als aus Westeuropa für sie keine Gefahren mehr auszugehen schienen, erkannten sie Russland als gefährlichen „systemischen Rivalen“. Heute besteht die vermeintliche Gefahr darin, dass eine intensive Kooperation Russlands mit Mittel- und Westeuropa den USA ihre Vorherrschaft über den „alten Kontinent“ entziehen könnte.

Die USA zogen sich nicht aus ihrem Vorfeld in Europa zurück, sondern dehnten ihre militärstrategische Infrastruktur weiter nach Osteuropa aus. Das erfolgte über die formale Aufnahme ehemaliger Staaten des Warschauer Vertrags in die NATO und durch die Verlagerung von US-Militär an die Grenzen Russlands – vom Baltikum über Polen bis Georgien. West- und Mitteleuropa betrachteten die USA in erweiterter Form nach wie vor als potenziellen, „ausgelagerten“ Kriegsschauplatz und die früheren Großmächte Britannien, Frankreich und Deutschland blieben als nicht souveräne politische Geiseln erhalten.

Kooperationsversuche

Viele Jahre lang bemühte sich Russland um die Entwicklung einer sicherheitspolitischen Partnerschaft und einer wirtschaftspolitischen, beiderseits vorteilhaften Zusammenarbeit. Putins Auftritt vor dem Bundestag 2001 bleibt unvergessen, ebenso seine Teilnahme an der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, auf der er allerdings bereits die Besorgnis Russlands angesichts der US-amerikanischen Expansion deutlich machte. Er wurde nicht erhört.

Der US-geführte NATO-Überfall auf Jugoslawien, die Zerstörung Afghanistans, des Irak und Libyens – einhergehend mit der Ablehnung aller friedenspolitischen und wirtschaftlichen Kooperationsvorschläge Russlands – sowie die Verödung der wichtigsten sicherheitspolitischen Kommunikationsstränge (NATO-Russland-Rat, OSZE, Rüstungsbegrenzungsverträge) durch die USA und deren zunehmende Isolationsstrategie durch „Sanktionen“ genannte Polizeimaßnahmen ließen keinen Zweifel mehr aufkommen: Die alte Politik des Containment wurde zielstrebig fortgesetzt.

Neue Politik Russlands

Russland begann sich zu wehren, erst verbal, dann zunehmend durch handfeste außenpolitische Schritte. Sichtbar wurde dies zunächst in der Aktivierung der Zusammenarbeit mit dem Iran, der Türkei und Israel sowie durch die aktive Unterstützung Syriens gegen die US-amerikanischen Regime-Change-Versuche.

Eine rote Linie überschritten die USA 2014 mit dem Regime Change in der Ukraine, was zu den bekannten russischen Reaktionen führte. Die USA haben damit den Konflikt mit Russland bewusst zugespitzt. Solange die Westeuropäer dem US-amerikanischen Narrativ der Bedrohung der Ukraine folgen, werden sie nicht verstehen, dass es beiden Polen gar nicht um die Ukraine geht. Und sie müssen sich nicht wundern, wenn über die Sicherheitslage in Europa ausschließlich zwischen den USA und Russland verhandelt wird. Von Bedeutung scheint auch, wie Deutschland als westeuropäische Kernmacht wieder zielgerichtet auf einen antirussischen Kurs gezwungen werden soll. Der neue „Big Stick“ heißt nunmehr Ukraine, deren Führung regelrecht versucht, die deutsche Regierung zu erpressen. Die von denen der USA deutlich abweichenden Interessen Deutschlands – aber auch Frankreichs und Britanniens – sollen so als potenzielle „Sonderwege“ gegenüber Russland, und sei es nur der Bau einer Gas-Pipeline, im Zaum gehalten werden. Zur Debatte stehen die Sicherheit Russlands und das Austarieren des künftigen militärstrategischen Kräfteverhältnisses – samt neuer völkerrechtlicher Kodifizierung. Dagegen stemmen sich die USA mit aller Macht.

Ein neuer Faktor ist der unaufhaltsame ökonomische, politische und militärpolitische Aufstieg Chinas, das die USA als weiteren „systemischen Feind“ für sich entdeckt haben, gegen den nun die gleiche Methode des Containment angewandt werden soll. Sogar die europäischen Handlanger werden dafür eingespannt: die Entsendung eines deutschen Kriegsschiffs ins Südchinesische Meer, Sanktionspolitik, politischer Boykott der Olympischen Winterspiele. Die „Verbissenheit“ der USA und ihre ideologische Verblendung haben etwas geschaffen, was Russen und Chinesen in ihrer jahrhundealten Geschichte gar nicht und auch unter sozialistischen Bedingungen nicht nachhaltig zustande gebracht hatten: eine strategische Partnerschaft. Es entsteht ein dritter Global Player, der aus dem wiedererstehenden Bipol möglicherweise bald einen Tripol werden lässt – denn auch China hat begonnen, sich zur Sicherung seiner eigenen Interessen zu wehren.

Neue Kräfteverhältnisse

In Westeuropa stellt sich das bisher zusätzlich durch das Nichtverstehen der Lage durch die politischen Eliten als nicht unproblematisch dar. Ein Blick zurück in die Vorkriegsgeschichte kann da nicht schaden. Der „Ausbruch“ Deutschlands aus den Fesseln der eingeschränkten Souveränität des Versailler Vertrags geschah über die Faschisten, weil schon einmal die Realitäten übersehen wurden. Auch damals wurde – insbesondere von den USA und Britannien – versucht, Deutschland gegen Russland, Sowjetrussland, in Stellung zu bringen, wozu die unselige „Appeasement“-Politik des Westens ihren Beitrag geleistet hat. Die Folgen waren furchtbar.

In den 30 Jahren der vermeintlichen „Weltinnenpolitik“ haben sich die Methoden der US-Außenbeziehungen dahingehend perfektioniert, dass an die Stelle des seit Ende der 40er Jahre in Form der UNO geltenden Völkerrechts einseitig zunehmend moralisierende Kriterien gesetzt werden. Permanent werden realpolitische Fakten geschaffen, wie in Syrien oder im sogenannten Ukraine-Russland-Konflikt, die dann mit den Narrativen von Demokratie, Freiheit, Menschenrechten und Solidarität, nun auch Klima, „bearbeitet“ werden. Denen kann scheinbar niemand widersprechen. Die aktuellen Ereignisse im Zusammenhang mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine sind ein furchtbares Ergebnis dieser Strategie. Und es ist wie immer – die Werktätigen in der Ukraine und Russland, aber auch in Mittel- und Westeuropa bezahlen die US-amerikanische Zeche, ohne sich der wahren Ursachen bewusst zu werden. Dass die neue „grüne“ Außenministerin dies bereits eingepreist hat und die Außenpolitik in eine (Klima-)Mission verwandelt, macht die Entwicklungen nicht erträglicher. Auch die Chinesen hat die Erinnerung an die westlichen Missionare vor 120 Jahren ganz bestimmt nicht verlassen – und da waren sie noch lange keine Sozialisten.

Die Containment-Doktrin hat für die USA auch nach 75 Jahren nicht ausgedient. Die Reorganisation der internationalen Beziehungen im 21. Jahrhundert hat jedoch begonnen. Friedensbewegte sind Freunde Russlands (und Chinas) nicht aus falsch verstandener ideologischer Solidarität, sondern wegen der Erkenntnis, dass es für Europa keinen Frieden ohne oder gegen Russland geben kann. Der Ausbruch der Europäer aus der eingeschränkten Souveränität und amerikanischen Containment-Strategie ist unabdingbare Voraussetzung für dauerhaften Frieden auf unserem Kontinent. Diese Position ist durch billigen Antikommunismus nicht mehr auszugrenzen. Dies sollten Friedensbewegte erkennen, wenn es schon unsere transatlantischen Missionare nicht vermögen.

Der Text wurde ursprünglich für die März-Ausgabe der „Mitteilungen der Kommunistischen Plattform“ geschrieben. Er wurde vom Autor für die UZ überarbeitet

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"Containment – 75 Jahre und kein Ende", UZ vom 4. März 2022



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