Bundesverfassungsgericht bestätigt ohne Not, dass das Retten von Lebensmitteln aus dem Müll strafbar ist. Studentinnen verurteilt

„Containern“ bleibt Diebstahl

Nach einer Studie des World Wildlife Fund (WWF) landen über 18 Millionen Tonnen Nahrungsmittel pro Jahr in Deutschland auf dem Müll. Der größte Teil wird von den Einzelhandelsketten der Lebensmittelmärkte entsorgt. Auch die Edeka-Filiale im bayerischen Olching schmeißt die überschüssige Ware in Müllcontainer. Sie stehen frei zugänglich auf dem Supermarktgelände und sind nur durch einige Schrauben gesichert. Am 4. Juni 2018 gegen 23 Uhr lösten die beiden Studentinnen Franzi S. und Caro K. mit einem Vierkant die Befestigungsschrauben des Containers und füllten ihre Rucksäcke mit Salatköpfen, Säften und Joghurt-Bechern. Dabei wurden sie von zwei Streifenpolizisten gestört. Drei Monate später bekamen sie Post von der Strafabteilung des Amtsgerichts mit der Verhängung einer Geldstrafe von jeweils 1.200 Euro wegen „besonders schwerem Diebstahl“.

Nachdem die beiden Einspruch eingelegt hatten, begann eine juristische Ochsentour, an deren Ende das Bundesverfassungsgericht entschied: „Containern“ bleibt rechtswidrig. Das Amtsgericht Fürstenfeldbruck minderte am 30. Januar 2019 die Sanktion auf eine Verwarnung mit Strafvorbehalt und acht Stunden gemeinnützige Arbeit. Gegen die Revision der Studentinnen entschied am 2. Oktober 2019 das Bayerische Oberste Landgericht. Es hielt die Entscheidung des Amtsgerichts für richtig und stellte fest, dass auch die Wertlosigkeit einer Sache kein Recht zu deren Wegnahme gebe. Eine Meinung, die deutsche Gerichte seit einer Reichsgerichtsentscheidung aus dem Jahr 1911 vertreten. Außerdem habe der Inhaber der Edeka-Filiale sein Eigentum an der weggeworfenen Ware nicht aufgegeben. Sein Wille sei darauf gerichtet gewesen, die möglicherweise durch Keime und Fäulnis beeinträchtigten Lebensmittel kon­trolliert entsorgen zu lassen. Die Studentinnen zogen vor das Bundesverfassungsgericht, das ihre Beschwerde allerdings zurückwies. Die Begründung spricht Bände, gleicht sie doch einem Exkurs zum Eigentumsbegriff im Kapitalismus: Auch bei wertlosen Sachen zähle verfassungsrechtlich allein die „Privatnützigkeit und grundsätzliche Verfügungsbefugnis des Eigentümers“. Das entspreche dem Sinnbild persönlicher Freiheit. Daran ändere auch die Gemeinnutzklausel des Artikel 14 Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetzes (Der Gebrauch des Eigentums soll der Allgemeinheit dienen) nichts. Das Strafrecht schütze durch seinen Diebstahlsparagrafen 242 Strafgesetzbuch (StGB) unverbrüchlich genau diese Verfügungsgewalt. Wenn also der Edeka-Marktleiter die Lebensmittel vernichtet sehen will, könne nicht ein Dritter diesen Zweck vereiteln.

Auch die Strafdrohung für jede Form des „Mundraubs“ sei durch die Verfassung gedeckt und verhältnismäßig: Der Wortlaut des Paragrafen 242 StGB („Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen“) lasse keine Ausnahme zu. Wer das hierin liegende „sozialethische Unwerturteil“ nicht anerkenne, müsse sich an den Gesetzgeber wenden. Schwacher Trost, denn alle Initiativen zur Entkriminalisierung des „Containerns“ scheiterten bisher, zuletzt ein durch die Bundestagsfraktion der Partei „Die Linke“ im April 2019 eingebrachter Gesetzesvorschlag.

Im Verfahren gegen Franzi S. und Caro K. sind alle juristisch möglichen Wege zur Vermeidung einer Bestrafung bewusst nicht gegangen worden. Möglich gewesen wäre eine Einstellung wegen Geringfügigkeit, ein Absehen von Strafe oder ein Freispruch wegen einer sozialethisch begründeten Ausnahmesituation. Das Verfassungsgericht findet kein einziges europarechtliches Wort dazu, dass zum Beispiel in Frankreich seit Februar 2016 der Lebensmittelhandel per Gesetz gezwungen ist, unverkaufte Lebensmittel an gemeinnützige Organisationen abzuführen. Den EU-Leitlinien zu Lebensmittelspenden von 2017 ist Ähnliches zu entnehmen. Das Schweigen der obersten Verfassungshüter deckt sich mit der Ignoranz der Bundesregierung, die am 30. Mai 2017 auf eine parlamentarische Anfrage hin erklärte, sie sehe „keine Notwendigkeit für eine gesetzliche Regelung“, sondern vertraue auf die Freiwilligkeit der Lebensmittelhändler.

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"„Containern“ bleibt Diebstahl", UZ vom 28. August 2020



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