Chronist des Widerstands

Von Detlef Grumbach

Christian Geissler

Christian Geissler

( Grumbach)

Im Verbrecher-Verlag erscheint eine Christian-Geissler- Werkausgabe – lieferbar sind bisher der Roman „Wird Zeit, dass wir leben“, der Doppelband „Schlachtvieh/Kalte Zeiten“ und, soeben erschienen, „Das Brot mit der Feile“. Vom 6.–8. Oktober 2016 veranstaltet die Christian-Geissler-Gesellschaft mit dem Literaturforum im Brechthaus Berlin eine Arbeitstagung über den Autor. Infos: http://christian-geissler.net und http://lfbrecht.de/

Christian Geissler wollte dazugehören – aber er war auch ein Zerrissener. Das fing in seiner Kindheit in den 1930er Jahren an: der liebevolle Vater steckte ihn in eine HJ-Uniform, die Mutter begleitete er zum Bahnhof Dammtor, wo sie sich von ihren jüdischen Freunden verabschiedete, die das Land noch früh genug verlassen konnten. Später erfuhr er vom Schicksal seiner beiden Onkel: Alfred und Heinrich Kurella. Die beiden Kommunisten waren ins Exil nach Moskau gegangen. Heinrich wurde dort im Oktober 1937 erschossen. Alfred kehrte 1954 in die DDR zurück und wurde dort führender Kulturfunktionär.

Dazugehören? Wozu? Wer ist die Partei?, diese Fragen beschäftigen auch Robert Beck, einen Kommunisten im Roman „Das Brot mit der Feile“. Beck war schon beim Hafenarbeiterstreik 1955 dabei, soll in Hamburg die Kämpfe organisieren, seine Direktiven erhält er aber aus dem fernen Ost-Berlin. „Wir im Betrieb. Das ist die Partei“, so lautet Becks Resümee, legt sich mit der Leitung an und wird an den Rand gedrängt.

„Da ist kein kluger freundlicher Platz zwischen Mündungsfeuer und Aufschlag“, heißt es in Geisslers Roman „Wird Zeit, dass wir leben“ (1976). Der Roman geht zurück in die Zeit des Hamburger Aufstands und erzählt vom Jahrzehnt bis Weihnachten 1933. Entweder – oder. Den Platz dazwischen gibt es nicht. Am Ende des Romans gelingt es einer Gruppe von Genossen, den KP-Funktionär Schlosser aus der Haft zu befreien. Der Roman ist inspiriert von den realen Erfahrungen des Genossen und Polizisten Bruno Meyer, der 1934 den Versuch unternommen hat, Fiete Schulze und Etkar André aus der Nazi-Haft zu befreien. Bei ihm ging die Sache schief. Meyer kam dafür selbst ins KZ, 1952 war er kurz Sekretär für Agit-Prop des Bezirks Waterkant, dann endete seine Parteikarriere abrupt in den Auseinandersetzungen um Titoismus und Abweichlertum. Später trat er der DKP bei und engagierte sich im Kuratorium der Gedenkstätte Ernst Thälmann. Hatte Meyer damals im Auftrag der KPD gehandelt oder gegen deren Willen? Seine auf Tonband erhaltenen Erinnerungen (zitiert im Nachwort der Neuausgabe) legen das zweite nahe – vielleicht hat er deshalb später nie darüber gesprochen.

Von jetzt an richteten sich seine Fragen an

seine GenossInnen und Kampf- gefährtInnen:

Wer bedroht uns?

Gegen wen kämpfen wir?

Wie führen wir den Kampf?

Christian Geissler, geboren 1928, hat sich in den 1960er Jahren für die Partei entschieden. 1960 hat er seinen ersten Roman – „Anfrage“ – veröffentlicht. „Wo war Ihr Herr Vater am 9. November 1938, nachts?“ – so genau will sein Protagonist Köhler es wissen. Er arbeitet als Assistent im Physikalischen Institut der Uni und recherchiert die „Arisierung“ des Gebäudes, in dem es untergebracht ist. Er will herausbekommen, wer mitgemacht und von der Judenverfolgung profitiert hat, wie sich die Schuldigen in der Nachkriegsgesellschaft um ihre Verantwortung drücken. Nach „Anfrage“ schrieb Geissler den Roman „Kalte Zeiten“: ein Freitag im Leben eines jungen Arbeiterpaares Ahlers in Hamburg-Wilhelmsburg. Sie sind keine Kämpfer, passen sich an, wollen teilhaben am Wirtschaftswunder. Warum verspielen sie ihren Traum vom Glück und verraten ihre Zukunft, so wie es dreißig Jahre vorher die Mitläufer der NSDAP getan haben? Mit seiner in der DDR erschienenen Reportage „Ende der Anfrage“ (1966) über ein SS-Heim in Österreich gibt Geissler es auf, Antworten von der Nachkriegsgesellschaft zu erwarten. Längst engagierte er sich in der Ostermarschbewegung, im Kampf gegen Remilitarisierung und Notstandsgesetze. Er wurde Redakteur des KPD-nahen „Kürbiskern“, trat der KPD bei. Von jetzt an richteten sich seine Fragen an seine GenossInnen und KampfgefährtInnen: Wer bedroht uns? Gegen wen kämpfen wir? Wie führen wir den Kampf?

Von dieser Politisierung in den 1960er Jahren erzählt der Roman „Das Brot mit der Feile“ (1973). Geissler knüpft an „Kalte Zeiten“ an, gibt dem Arbeiter Ahlers Herkunft, Geschichte und ein Umfeld: Er lebt bei der Großmutter, weil seine Mutter von einem SS-Mann erschossen worden ist, als sie als Rotkreuzschwester Juden in einem Eisenbahnwaggon etwas zu trinken bringen wollte. Dann sind da seine Kumpel, halbstarke Rabauken, Draufgänger aus der Nachbarschaft und die Kameraden bei der Bundeswehr, ein französischer Soldat, der ein ziemlich realistisches Bild vom Kolonialkrieg in Algerien gibt. Da ist seine Freundin Rita, seine erste große Liebe, mit ihrer Verwandtschaft, die weit ins linke, kommunistische Umfeld reicht; ein Armenarzt, der schwarz eine Gangsterbande behandelt, die Kollegen an den verschiedenen Arbeitsstellen, unter ihnen der Kommunist Beck. Als Aushilfsfahrer lernt Ahlers „Aneken 104“ kennen, eine an Ulrike Meinhof angelehnte Figur, die über den Widerstand von Frauen schreibt. Später kommt der NDR-Journalist Proff dazu, das Alter ego des Autors. Was die Figuren eint, ist der Druck von außen, von oben. Sie sind abhängig, erleben die herrschende Gewalt handfest real oder „strukturell“. Für Ahlers wird sie verkörpert durch Oberleutnant Ratjen, seinen Ausbilder bei der Bundeswehr, später Bauunternehmer und sein Chef, der ihn korrumpiert, protegiert und auspresst wie eine Zitrone. Geissler-Leser kennen Ratjen schon aus „Kalte Zeiten“, in „Wird Zeit, dass wir leben“ spielt sein Vater eine ähnliche Rolle. Das ist nur ein Beispiel, wie Geissler von Roman zu Roman ein breit gefächertes Figurengeflecht entwickelt, mit dem er gleichsam durch die Zeit geht, zum Chronisten wird.

Auf die Gewalt von oben reagieren seine Figuren ganz unterschiedlich: mit Hass und Wut, mit Opportunismus und Widerstand, mit Organisation: KPD. Geissler nimmt all diese Wege ernst, die Erfahrungen der einzelnen Figuren sind authentisch. Die LeserInnen sind mittendrin, die Schreibweise fordert ihnen eine eigene Haltungen ab. Das zeichnet Geisslers Prosa insgesamt aus: Er erzählt nicht, wie es geht, wie es richtig ist, sondern bleibt ein Fragender, öffnet in seiner Poetologie des Widerstands einen Raum, in dem seine LeserInnen ihre eigenen Schlüsse ziehen müssen.

Als Kurt Bachmann im September 1968 die Konstituierung der DKP bekannt gab, war dies für die meisten GenossInnen der illegalen KPD eine Überraschung. Für viele auch die Tatsache, dass sich die DKP auf das Grundgesetz der BRD verpflichtete, das „Grundgesetz des Eigentums“, wie Geissler es nannte. Er verließ die Partei, sympathisierte mit der RAF und rückte die Frage nach einer politischen Gewalt von unten ins Zentrum seines Schreibens, einer Gewalt, die als ultima ratio auf die Gewalt von oben reagiert. Der Roman „kamalatta“ begleitet seine Figuren durch die 1970er Jahr – erzählt das Jahrzehnt aus der Perspektive des Scheiterns. So wie Peter Weiss seine „Ästhetik des Widerstands“ aus der Perspektive von Plötzensee geschrieben hat, schreibt Geissler „kamalatta“ aus der Perspektive von Stammheim. Was haben wir falsch gemacht?

Bei Geissler bildeten politisches Handeln und Schreiben eine Einheit. Er hat neben seinem Romanen auch Gedichte und Hörspiele geschrieben, ist als politischer Redner aufgetreten und war auch an einem Stück Fernsehgeschichte beteiligt: Als der Brecht-Schüler Egon Monk für den NDR das Format des Fernsehspiels „erfand“, wählte er Geisslers „Anfrage“ aus, um die Reihe 1961 mit einem Paukenschlag zu eröffnen. Geissler wurde Hausautor des NDR, verfasste Fernsehspiele (u. a. „Schlachtvieh“ und „Wilhelmsburger Freitag“) und ab 1969 zahlreiche Dokumentarfilme. Mit dem Roman „kamalatta“ geriet er zunehmend in die Isolation, als er 2008 in Hamburg starb, war er fast vergessen.

Die Christian-Geissler-Gesellschaft, zu deren Gründungsmitgliedern Dietmar Dath, Georg Fülberth, Doris Gercke, Sabine Peters und Michael Wildenhain gehören, will das Werk dieses bedeutenden Autors wieder zugänglich machen und eine Diskussion darüber anregen, welcher Stellenwert und welche Aktualität ihm heute zukommt.

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"Chronist des Widerstands", UZ vom 16. September 2016



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