Im Januar erschien die neue Ausgabe der „Marxistischen Blätter“. Im Schwerpunkt des Hefts stellt die Redaktion die Frage, ob mit Technik das Klima zu retten sei. Internationale Konferenzen zur Lösung des Problems scheiterten „in erster Linie, weil die reichen Länder nicht zahlen wollen“. Die Autorinnen und Autoren gehen der Frage nach, ob die derzeit propagierten – vor allem technischen – Lösungen realistisch sind oder ob es nicht eher grundsätzlicher Änderungen in den Produktionsverhältnissen bedarf. Wir drucken mit freundlicher Genehmigung des Verlags den Artikel von Wolfgang Albers ab. Er ist Chirurg im Ruhestand und saß für „Die Linke“ von 2006 bis 2021 im Berliner Abgeordnetenhaus. Die MB können beim neue-impulse-verlag.de bezogen werden.
Die Corona-Pandemie schlug manch seltsame Blüte. Natürlich gab es im Zusammenhang mit dieser neuen Krankheit nichts zu verharmlosen, aber es galt auch, nichts zu dämonisieren. Vieles hielt schon damals einer objektiven Überprüfung nicht stand, doch virologische Taliban saßen in den Talkshows und arbeiteten sich allabendlich an „Corona-Leugnern“, „Covidioten“ oder notorischen „Impfverweigerern“ ab. Wer kritische Fragen stellte, stellte schnell Corona in Frage und sah sich – als „Querdenker“ katalogisiert – aus der Debatte ausgegrenzt.
Den öffentlichen Diskurs beherrschten stromlinienförmige Lemminge. Die Linke im Land blieb weitgehend stumm. Das Virus verfügte offenbar nicht nur über ein erhebliches klinisches Infektionspotential, es war ganz offensichtlich auch in der Lage, die Grundlagen unserer aufgeklärten Zivilgesellschaft zu erodieren. Allerdings weniger durch seine faktische Pathogenität als vielmehr durch die politisch-gesellschaftlichen Reaktionen, die es auslöste. Deshalb ist der Umgang mit der Pandemie nicht nur wissenschaftlich und medizinisch, sondern unbedingt auch politisch aufzuarbeiten. Die ehemals Verantwortlichen zeigen bisher wenig Bereitschaft, ihr politisches Handeln kritisch zu hinterfragen. Ein lapidares „Wir werden einander viel verzeihen müssen“ ersetzt die Aufarbeitung ebenso wenig wie das stete Mantra „Wir haben alles richtig gemacht, sonst wäre alles noch schlimmer gekommen“. Es gilt Unverantwortliches aufzuzeigen und die Verantwortlichen zu benennen.
Berliner Posse
Am 17. März 2020 beschloss der Berliner Senat, in den Messe-Hallen 25 und 26 auf dem Messegelände der Stadt an der Jafféstraße ein „Corona-Behandlungszentrum“ (CBZJ) mit bis zu 1.000 Betten als „Überlaufklinik“ aufzubauen. Dafür wurden kurzfristig zunächst 45 Millionen Euro aus dem Landeshaushalt zur Verfügung gestellt.
Eine Woche zuvor, am 10. März, hatte der Senat erstmals drei Vertreter der Berliner Charité in eine Senatssitzung gebeten, um mit ihnen über die Corona-Lage in der Stadt zu sprechen. Vertreter des landeseigenen Klinikkonzerns Vivantes, der acht Krankenhäuser mit rund 6.000 Betten in der Stadt betreibt, waren zu dieser Sitzung nicht geladen.
Eventuelle Pläne, in der Stadt vorsorglich zusätzliche Bettenkapazitäten zu schaffen, wurden auf der Sitzung nicht behandelt. Die Initiative dazu ging, offensichtlich ohne jede vorherige Rücksprache, von der Senatsverwaltung für Gesundheit unter der verantwortlichen Senatorin Dilek Kalayci (SPD) aus. Ihre Begründung: Mit Blick auf die Entwicklung des Pandemiegeschehens müsse ein Überlaufen der Berliner Krankenhäuser mit stationär behandlungsbedürftigen Covid-19-Erkrankten verhindert werden. Kalayci prophezeite, selbst das gut aufgestellte Berliner Gesundheitssystem werde unter der Pandemie an seine Grenzen stoßen. Es gelte jetzt „Engpässe in der klinischen Versorgung zu verringern“.
Corona-Lage
Am Tag der Senatsentscheidung zählte das Robert-Koch-Institut in seinem Corona-Lagebericht weltweit außerhalb Chinas 100.375 laborbestätigte „Covid-19-Fälle“. Für Deutschland wurde die Zahl der bestätigten Fälle aus allen 16 Bundesländern mit insgesamt 7.156 angegeben.
Tatsächlich handelte es sich dabei aber nicht um klinisch-symptomatische „Krankheitsfälle“, wie die Wortwahl suggeriert, sondern um die Zahl der durchgeführten Tests mit einem positiven Corona-Nachweis, völlig unabhängig davon, ob bei der betreffenden Person klinische Symptome vorlagen oder nicht.
In der Millionenstadt Berlin gab es zu diesem Zeitpunkt 383 registrierte „Corona-Fälle“. In den Berliner Krankenhäusern lagen 21 Patienten, die einen positiven Corona-Nachweis hatten. Allerdings ist nicht bekannt, ob ihr Corona-Befund auch der Grund für ihre stationäre Aufnahme war. Der Senat kann dazu keine Angaben machen. Er ist bis heute nicht in der Lage, die Zahl der tatsächlich klinisch-symptomatischen Covid-19-Patienten in den Berliner Krankenhäusern zu nennen.
Der Berliner Krankenhausplan 2020 weist für die Stadt offiziell 22.523 Krankenhausbetten aus. Damit waren am 17. März 0,093 Prozent dieser Betten mit „Corona-Patienten“ belegt. An keinem einzigen Tag im Zeitraum bis zur Fertigstellung der Behelfsklinik auf dem Messegelände Mitte Mai lag die Auslastung der Berliner Krankenhausbetten mit Corona-Patienten über 2,5 Prozent.
Als nach einem Jahr immer noch kein einziger Patient in der „Überlaufklinik“ behandelt worden war, rechtfertigte sich die Senatorin damit, sie rechne nun aber schon bald mit Hilferufen aus Brandenburg und Thüringen. Dort sei die Auslastung der Krankenhäuser inzwischen bedenklich. Die Hilferufe blieben jedoch aus und die Betten auf dem Messegelände standen weiterhin leer. Bis heute fehlt jede schlüssige Erklärung, worin die „dringliche Notwendigkeit“ bestand, zusätzliche Bettenkapazitäten in Berlin aufzubauen.
Überlaufklinik
Bundeswehr und Technisches Hilfswerk probten den Ernstfall und stampften das Corona-Behandlungszentrum unter der entsprechenden alarmistischen Begleitung durch die Berliner Medien in kürzester Zeit aus dem Boden.
Am 31. März hatte die Herrichtung der Hallen begonnen, am 30. April war sie fertiggestellt. Auf einer Gesamtfläche von 10.901 Quadratmetern waren für das Provisorium drei Kilometer Traversen, acht Kilometer Kupferrohre für Sauerstoffleitungen, 80 Kilometer Elektroleitungen sowie 15 Kilometer Netzwerkkabel verlegt worden. Obwohl die Halle ausdrücklich nur zur Übernahme nicht intensiv- oder beatmungspflichtiger Patienten dienen sollte, waren auch 118 Beatmungsgeräte bei der Firma Draeger geordert worden. Auch ein Computertomographie-Gerät wurde angeschafft.
Die Verantwortung für den Betrieb wurde dem kommunalen Klinikkonzern Vivantes übertragen. Auf Wunsch des Landes Berlin hatte dieser das Zentrum in eigener Trägerschaft gegen eine Kosten- und Aufwandserstattung durch den Senat zu übernehmen. Beglückt war die Vivantes-Geschäftsführung über diesen „Wunsch“ nicht. Details des Vertrags zwischen dem Unternehmen und dem Berliner Senat sind öffentlich nicht bekannt, für den Inhalt wurde eine Verschwiegenheitsklausel vereinbart.
Die Eröffnung ihres Kalayci-Memorial-Projekts feierte die Senatorin am 11. Mai mit großem Staat im Beisein vom mehr als 100 Reportern, Fotografen, Kameraleuten, Abgeordneten und geladenen Gästen nebst einem General der Bundeswehr. In den Berliner Krankenhäusern belegten an diesem Tag 412 Corona-Patienten 1,82 Prozent der Betten.
Drei Tage später, am 14. Mai, besuchte auch Bundespräsident Steinmeier das Berliner Vorzeigeobjekt, von dem der Regierende Bürgermeister überzeugt war, andere Städte hätten auch gerne eine solche Klinik-Reserve. Obwohl der Geschäftsführung von Vivantes die gesamte medizinische und logistische Verantwortung für den Betrieb des Zentrums übergeholfen worden war, war ihre Anwesenheit beim Besuch des Bundespräsidenten unerwünscht. Bereits auf dem Weg zum Besuchstermin war sie wieder ausgeladen worden.
Zum „Eröffnungstag“ verfügte die umfunktionierte Halle über eine maximale Kapazität von 488 Betten. Ordnungsbehördlich genehmigt und tatsächlich funktionsfähig waren davon allerdings bis zum Dezember 2020 lediglich 84.
Konzept ohne Personal
Bereits unmittelbar nach der Entscheidung des Senats, eine „Überlaufklinik“ zu errichten, war die verantwortliche Senatorin befragt worden, mit welchem Personal sie denn ein solches Behandlungszentrum betreiben wolle. Kalayci versicherte stets, es werde keinesfalls Pflegepersonal aus dem laufendem Klinikbetrieb herangezogen. Der Betrieb könne allein mit externen Kräften gewährleistet werden. Der Wille zur Hilfe sei unter den Berlinern jedenfalls da, verkündete Klinikbau-Koordinator Albrecht Broemme, ehemals Landesbranddirektor, optimistisch: „Ich weiß von der Bereitschaft in breiten Teilen der Bevölkerung, hier zu helfen.“ Lösungen müssten auch für Medizinstudenten höherer Semester her, etwa dass die Arbeit in diesem Krankenhaus als Praktikum anerkannt und gleichzeitig bezahlt werde. „Dann werden die Studenten Schlange stehen“, glaubte Broemme. Drei Tage zuvor hatte er noch fabuliert, Studierende könnten möglicherweise auch auf der Basis des Infektionsschutzgesetzes zu Diensten in der Klinik „herangezogen“ werden. Die ebenfalls als Unterstützer ins Spiel gebrachte Bundeswehr hatte schnell abgewunken, man könne ein solches Krankenhaus nicht mit eigenen Mitteln betreiben. Für eine Behandlungskapazität von etwa 300 Betten in der Halle 26 wären etwa 270 examinierte Pflegekräfte und ungefähr 230 Pflegekräfte mit Helferqualifikation benötigt worden. Der Bedarf an Ärztinnen und Ärzten wurde mit ungefähr 100 angegeben. Zwar hatte der damalige Präsident der Berliner Ärztekammer, Günther Jonitz, bei der Eröffnung der Halle zuversichtlich verkündet, an Medizinern werde es nicht mangeln, doch trotz wiederholter öffentlicher Aufrufe über die verschiedensten Kanäle, sich für einen sogenannten „Krisenpersonalpool“ zur Verfügung zu stellen, war die Reaktion eher mager. Auch die Webseite www.corona-zentrum-berlin.de, die vor allem aus Aufrufen an die Angehörigen der diversen medizinischen Berufsgruppen bestand, sich als „Corona-Helfer:in“ zu bewerben, fand nicht die erwartete Resonanz.
Bis zum 3. August 2020 hatten sich insgesamt 22 Personen für eine Tätigkeit in der Messe-Klinik registrieren lassen. Das reichte weder vorne noch hinten und so musste aufgrund der ausbleibenden externen Unterstützung das Personalkonzept im Laufe des Sommers geändert werden. Für den Fall einer kurzfristigen Betriebsaufnahme sollte nun ein sogenanntes „Kernteam“ den Betrieb absichern. Dieses Kernteam setzte sich im Wesentlichen aus Vivantes-Personal zusammen. Auf die Nachfrage, wie die Bildung eines solchen Kernteams aus Vivantes-Pflegekräften mit der mehrfachen Zusicherung der Senatorin zu vereinbaren sei, kein aktives Pflegepersonal aus den Berliner Kliniken für ihr Corona-Behandlungszentrum abzuziehen, antwortete der Senat, die „dynamischen Entwicklungen in der ersten Phase der Pandemie“ hätten es notwendig gemacht, ein solches Kernteam zu bilden, damit jederzeit eine kurzfristige Betriebsaufnahme gewährleistet werden konnte. Diese Stabilität in der Verfügbarkeit sei nur mit Vivantes-Personal zu erreichen gewesen. Ganz offensichtlich das verklausulierte Eingeständnis des personellen Desasters. Es gab von Anfang an kein schlüssiges Personalkonzept. Zu keinem Zeitpunkt hätte der veranschlagte Personalbedarf der Messe-Klinik auch nur annähernd mit externen Kräften gedeckt werden können.
Millionen für Attrappe
Auch der weitere Verlauf der Pandemie lieferte dem Senat keine sachliche Begründung für seine „Überlaufklinik“. Im Gegenteil: Berlins Krankenhäuser standen mitten in der Pandemie halb leer. Am Tag mit der höchsten Auslastung der Berliner Krankenhäuser durch Corona-Patienten, das war der 29. Dezember 2020, befanden sich 1.773 Patienten mit einem positiven Corona-Nachweis in stationärer Behandlung und belegten 7,53 Prozent der laut Krankenhausplan vorhandenen Betten.
In seinem tumben Übereifer, mit dem offenbar das „aktive Krisenhandeln des Staates“ im Sinne des bekanntgewordenen Strategiepapiers des Bundesinnenministeriums demonstriert werden sollte, wurden hier Millionen Euro aus dem Fenster geworfen. Und niemand protestierte. Nahezu ohne jede kritische Debatte wurden die Gelder im Berliner Abgeordnetenhaus durchgewunken.
Plötzlich war das Geld da, das den Berliner Krankenhäusern seit Jahren vorenthalten wurde. Deren Geschäftsführungen dürften vor Wut geschäumt haben. Auf 2,1 Milliarden Euro bezifferte die Berliner Krankenhausgesellschaft den aufgelaufenen Fehlbedarf ihrer Häuser im Jahre 2019. Für die Klinik-Attrappe aber war jedes Geld vorhanden.
Hatten sich bei der Einweihung noch alle stolz fotografieren lassen, beim peinlichen Abbau war keiner dabei. Konsequenzen wurden aus der mehr als 90 Millionen Euro teuren Narretei keine gezogen. Den Berliner Kliniken fehlen nach wie vor die notwendigen Gelder, sich durch einfache Maßnahmen wie den Einbau von Schleusen und Trennwänden in den Zimmern dauerhaft pandemiefest zu machen. Auf die Anfrage, warum im nächsten Landeshaushalt keine entsprechenden Mittel eingestellt sind, verweigert der Berliner Senat die Auskunft.