Die Bildungskommission der DKP Berlin lädt für den 15. Juni um 18.30 Uhr im ND-Gebäude, Franz-Mehring-Platz 1, Seminarraum 3 zu einer Diskussionsveranstaltung ein, um die China-Debatte fortzuführen. Zum Thema „Vom Kapitalismus gefürchtet, für die westliche Linke ein Problem: China auf dem Weg zum Sozialismus“ referiert Beat Schneider aus Bern. Er hat das Buch „Chinas langer Marsch in die Moderne – Zwanzig nicht eurozentristische Thesen“ geschrieben. UZ druckte im Januar Auszüge.
Wir veröffentlichen im Folgenden eine Rezension des Buches von Willi Egloff „Ein anderer Blick auf China“ mit freundlicher Genehmigung des „Journal B“, wo sie zuerst erschien:
China-Bashing ist groß in Mode. Fast täglich wird dem Publikum in europäischen und US-amerikanischen Medien eingehämmert, wie unverantwortlich die chinesische Regierung handle und wie übel es den dort lebenden Menschen gehe. Mit seinem Buch tritt Schneider dieser anti-chinesischen Propagandalawine entgegen. Er erzählt aber nicht einfach das Gegenteil, sondern er fordert einen anderen Blick auf die chinesische Geschichte und Kultur.
So beginnt die Geschichte Chinas für Schneider nicht mit der Ausrufung der Volksrepublik China im Jahre 1949, sondern sie ist ein 5000-jähriges Kontinuum. Die aktuelle Stellung der Volksrepublik als wirtschaftliche Weltmacht ist in dieser Perspektive nicht einfach ein verblüffender Aufschwung, sondern die Rückkehr des Landes zur Wirtschafts-, Innovations- und Kulturmacht, die es schon zuvor über Jahrhunderte hinweg gewesen war. Erst die militärische Unterjochung Chinas durch die europäischen und japanischen Kolonialmächte im 19. und 20. Jahrhundert hatten diese Stellung zerstört und dem Land „hundert Jahre der Demütigung“ beschert. Diese machten das Land zu einem riesigen Armenhaus.
Aus chinesischer Perspektive erlebt die Nation daher in der Gegenwart ihre Wiederauferstehung nach einer leidvollen Geschichte, also die Rückkehr zur Normalität. Schneider spricht vom „Traum einer chinesischen Renaissance“.
Fehlendes Verständnis für kulturelle Unterschiede
Ein wichtiger Grund für die Ablehnung chinesischer Politik ist gemäß Schneider auch das verbreitete Unwissen über die Eigenständigkeit chinesischen Denkens. China bleibe dem Westen in Vielem fremd, wie es die Redensart „Das ist für mich Chinesisch“ plastisch ausdrücke. Während der Westen in einem mechanistischen Entweder-oder gefangen sei, denke und handle China in der Kategorie des Sowohl-als-auch. Deshalb kämen Chinesen mit Widersprüchen wesentlich besser klar als Menschen im kapitalistischen Westen. Deshalb auch sei die marxistische Dialektik dem chinesischen Denken keineswegs fremd.
Das Sowohl-als-auch von Entfesselung und staatlicher Bändigung der Produktivkräfte, von Wettbewerb und langfristiger staatlicher Planung, von Innovation und Kontrolle, ist gemäß Schneider die große Stärke der neueren chinesischen Entwicklung. China habe sich „die Instrumente des kapitalistischen Westens angeeignet, ohne zu verwestlichen“, heißt es auf Seite 58. Darin sieht der Autor das Besondere im „Sozialismus mit chinesischen Merkmalen“, den die Staatsführung propagiert.
Das zeige sich auch in der chinesischen Außenpolitik. Diese sei gleichzeitig konvergent und divergent: Konvergent, indem sich China an die kapitalistischen internationalen Normen anpasse. Divergent, indem China im internationalen System Verantwortung übernehme, diesem aber seinen eigenen, oft divergenten Stempel aufdrücke.
Erfolgreiche Armutsbekämpfung
Die Nachhaltigkeit chinesischer Wirtschaftspolitik illustriert Schneider insbesondere mit den Erfolgen in der Bekämpfung der Armut. Rund 800 Millionen Menschen in China sind laut Angaben der Weltbank innerhalb von nur 40 Jahren aus bitterster Armut befreit worden. Schneider bezeichnet dies als „eine der herausragendsten zivilisatorischen Leistungen der Geschichte“ und als „größten Demokratisierungsschub der Menschheitsgeschichte“. Er stimmt darin überein mit dem italienischen Philosophen Domenico Losurdo, welcher 2017 festhielt: „Mit dem Demokratieschub erlangten die 800 Millionen Menschen die elementarsten Menschenrechte, die es gibt, das Recht auf Leben und das Recht auf Freiheit von Angst und Not“.
Dabei verschweigt Schneider nicht, dass diesem wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung Perioden selbstverschuldeten Elends und übelster staatlicher Willkür vorangingen. Als „bittere Lehren“ werden diese Jahre in der chinesischen Führung heute reflektiert und als gravierende Fehler taxiert. Sie gipfelten darin, dass sich die Volksrepublik für eine Politik der „Reform und Öffnung“ entschied, die in ihrem Kern eine „nachholende Entwicklung der Produktivkräfte“ anstrebte.
Diese Politik war laut Schneider sehr erfolgreich, brachte aber auch die heute im Zentrum der innerchinesischen Diskussionen stehenden „Nebenwidersprüche“ mit sich, wie etwa die hohe Belastung von Natur und Umwelt, der sozialen Beziehungen und der moralischen Werte.
Als weitsichtiges Entwicklungsprojekt beschreibt Schneider auch das Projekt der „Neuen Seidenstraße“, das offiziell unter dem Namen „Ein Gürtel, eine Straße“ läuft. Entlang der Jahrtausende alten Seidenstraßen sollen neue Straßen, Schienen, Häfen, Brücken, Industrieparks entstehen, die neue Wertschöpfungsketten ermöglichen. Das Investitionsvolumen beträgt weit über eine Billion US-Dollar.
Die chinesische Führung geht davon aus, dass damit „ein neues Kapitel in der Entwicklungs- und Fortschrittsgeschichte der Menschheit“ geschrieben werde. Der Erfolg oder Misserfolg des gigantischen Projektes wird laut Schneider auch darüber entscheiden, ob der oben bereits erwähnte Traum einer chinesischen Renaissance in Erfüllung gehen wird oder nicht.
Westliche Albträume
Schneider geht detailliert auf die westlichen Albträume ein, die der rasante Aufstieg der Volksrepublik im Westen auslöst: Die Angst vor Sozialismus und Kommunismus, den Kampf um Demokratie und Menschenrechte, die digitale Überwachung, der Uiguren-Konflikt. Dabei versucht er wiederum, die eurozentristische Sicht der westlichen Medien durch Informationen aus anderen Quellen zu ergänzen und einzuordnen.
Gleiches gilt auch für den in jüngster Zeit wieder aufflammenden Taiwan-Konflikt. Schneider erinnert daran, dass Taiwan über Jahrhunderte hinweg immer ein Teil Chinas war, bevor es 1894 von Japan militärisch besetzt wurde. China hat aber seinen Anspruch auf diesen Teil Chinas nie aufgegeben, und das Land kann sich dabei auch auf das Völkerrecht stützen.
Gemäß der 1976 verabschiedeten Resolution 2798 der UN-Generalversammlung ist Taiwan nämlich nach wie vor ein integraler Bestandteil der Volksrepublik China. Es ist also alles andere als eindeutig, dass es die Volksrepublik China ist, welche im Südchinesischen Meer die geltende Weltordnung in Frage stellt.
Aufforderung zur Diskussion
Das Buch ist dank diesem ständigen Blickwechsel ausgesprochen informativ und zitiert zahlreiche wenig bekannte Quellen. Schneider behauptet dabei nicht, im Besitz der objektiven Wahrheit zu sein. Vielmehr deklariert er seine eigenen Beurteilungen ausdrücklich als „persönliche Bemerkungen“, die immer wieder in den Text eingestreut sind. Die gleiche Haltung kommt auch schon in der Anlage des Buches zum Ausdruck, dessen Inhalt explizit als „20 Thesen“ bezeichnet wird.
Beat Schneider
Chinas langer Marsch in die Moderne. Zwanzig nicht-eurozentristische Thesen
PapyRossa Verlag Köln 2022, 333 Seiten, 22,90 Euro
Erhältlich im UZ-Shop