Der Austritt aus dem INF-Vertrag würde den Vereinigten Staaten nicht nur die – als wenig erfolgversprechend eingestufte – Option eröffnen, China in etwaige Gespräche über ein neues Abkommen zum Verbot von Mittelstreckenraketen einzubinden. Vor allem ermöglichte er den USA, künftig eigene landgestützte Mittelstreckenraketen in Ost- und Südostasien zu stationieren. Verfügbar sind die Waffen bereits jetzt, allerdings nicht auf Land; sie müssen von U-Booten, Schiffen oder Flugzeugen abgeschossen werden, da der INF-Vertrag landgestützte Systeme verbietet. US-Strategen halten eine Stationierung auf Land in Ost- und Südostasien für überaus vorteilhaft. Zum einen könne man damit die eigene, derzeit als „unzulänglich“ eingestufte „offensive konventionelle Feuerkraft“ in Ost- und Südostasien stärken, zum anderen sei die Stationierung von Mittelstreckenraketen an Land nicht nur billiger; sie setze auch Kräfte der Marine und der Luftwaffe frei, die dann für andere Operationen bereitstünden. Als Standorte für US-Mittelstreckenraketen kommen demnach nicht nur Guam und US-Stützpunkte in Japan, sondern auch die Philippinen sowie Nordaustralien in Betracht.
Mit der Aufkündigung des INF-Vertrags zielen die USA auf die Volksrepublik
US-Militärstrategen erklären bereits seit geraumer Zeit, der INF-Vertrag habe negative Folgen für den Operationsspielraum der US-Streitkräfte in Ost- und Südostasien. Peking ist an den Vertrag, der Ende 1987 zwischen Washington und Moskau geschlossen wurde, nicht gebunden. Tatsächlich besteht ein großer Teil des chinesischen Raketenbestandes aus Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5 500 Kilometern. Ihre zentrale Funktion besteht darin, feindliche Operationen nahe des chinesischen Territoriums zu verhindern: Sie sind ein wichtiger Teil von Chinas „Anti Access/Area Denial“-System (A2/AD, Anti-Zugang/Gebietsverweigerung), das den Zugang feindlicher Streitkräfte zu angrenzenden Gewässern wie etwa dem Südchinesischen Meer sperren und dortige Kampfhandlungen unterbinden soll. Es handelt sich demnach um eine defensive Funktion. Zu den chinesischen Mittelstreckenraketen zählen Modelle wie die DF-21D, die auch „Carrier Killer“ genannt worden ist und die Fähigkeit haben soll, Flugzeugträger der U. S. Navy auszuschalten. Die US-Militärbasen in Japan befinden sich in der reichweite chinesischer Mittelstreckenraketen. Washington müsste also im Falle einer Aggression gegen China mit höchst empfindlichen Gegenschlägen rechnen.
US-Präsident Donald Trump hat sich dahingehend geäußert, dass die chinesischen Mittelstreckenraketen eine wichtige Rolle für seine Ankündigung gespielt haben, aus dem Vertrag auszusteigen. Vorher hatte er mit einer Aufstockung des amerikanischen Atomwaffenarsenals gedroht. Er sagte, diese Drohung gelte Russland und China und „jedem sonst, der dieses Spiel spielen will“. Trump betonte zugleich, sollten die anderen Staaten „zur Vernunft kommen“, sei er auch wieder zur Abrüstung bereit. Unter „Vernunft“ dürfte er in diesem Fall verstehen, dass das Land einem Vertrag zustimmt, der es dazu zwingt, seine Mittelstreckenraketen abzubauen.
China rief die USA inzwischen dazu auf, ruhig und besonnen zu agieren. Die Sprecherin des Außenministeriums, Hua Chunying, wies die Behauptung der US-Regierung zurück, Chinas stetige Aufrüstung habe etwas mit der geplanten Aufkündigung des Vertrags zu tun: „Die einseitige Abkehr der USA wird viele negative Auswirkungen haben.“ Der bisherige Fortschritt müsse von allen Beteiligten erkannt und geschätzt werden, der Vertrag sei das Ergebnis jahrelanger Verhandlungen und habe als wichtiges Abrüstungsabkommen viel dazu beigetragen, das strategische Gleichgewicht zu wahren, so Hua weiter. „Wir hoffen, dass die USA klug mit der Sache umgehen, zu Verhandlungen bereit sind, und nachdenken, bevor sie handeln.“
Auch die Bundeswehr ist inzwischen in Ostasien sowie im Westpazifik unterwegs. Anfang Juni teilte Frankreichs Verteidigungsministerin Florence Parly mit, Deutsche nähmen als „Beobachter“ an Patrouillenfahrten französischer Kriegsschiffe im Südchinesischen Meer teil. Zudem ist immer häufiger die Forderung zu hören, die Bundeswehr solle ihrerseits Kriegsschiffe dorthin entsenden, um die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich bei Durchfahrten durch die Gewässer vor Inseln und Inselgruppen im Südchinesischen Meer zu unterstützen, die China für sich beansprucht. Mit den provozierenden Durchfahrten, die ein erhebliches Eskalationspotenzial bergen, soll dieser Anspruch in Frage gestellt werden. Darüber hinaus hat die Bundeswehr im Sommer schon zum zweiten Mal an einem US-geführten Manöver im Westpazifik teilgenommen, bei dem zahlreiche Szenarien erprobt wurden, die grundsätzlich in bewaffneten Auseinandersetzungen mit der Volksrepublik praktisch umgesetzt werden könnten – darunter zum Beispiel der Abschuss landgestützter Anti-Schiffs-Raketen durch die japanischen Streitkräfte.