Hatten vor dem NATO-Jubiläumstreffen, das letzte Woche in London stattfand, manche Experten eine Eskalation der zunehmenden Konflikte im Bündnis nicht ausgeschlossen, so ist ein offener Eklat auf der Veranstaltung ausgeblieben. Tatsächlich ist es der NATO sogar gelungen, einige Erfolge zu erzielen. So konnte hinsichtlich der sogenannten „Readiness Initiative“ Vollzug vermeldet werden. Demnach sind die Bündnismitglieder ab dem kommenden Jahr in der Lage, 30 Einheiten von Heer, Luftwaffe und Marine binnen höchstens 30 Tagen in den Krieg zu schicken. Wie aus Brüssel verlautet, geht es um 25 000 Soldaten, 300 Militärflugzeuge und 30 Kriegsschiffe. Laut Berichten ist Deutschland mit 7 000 Soldaten, 50 Flugzeugen und Hubschraubern sowie drei Schiffen beteiligt und gehört damit neben Frankreich und Großbritannien zu den bedeutendsten Truppenstellern.
Zur Erhöhung der Einsatzbereitschaft kommt hinzu, dass in London erstmals der nordmazedonische Ministerpräsident Zoran Zaev vertreten war. Sein Land wird in Kürze förmlich in das Bündnis aufgenommen, sobald das spanische Parlament dem Vorhaben seine Zustimmung erteilt. Der Prozess hatte sich wegen der spanischen Parlamentswahl verzögert.
Positiv bewertet hat Bundeskanzlerin Angela Merkel das Gespräch mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem britischen Premierminister Boris Johnson, das sie am Rande des Londoner Jubiläumstreffens führte. Vorab hatte heftiger Streit insbesondere zwischen Macron und Erdogan für Schlagzeilen gesorgt. Macron hatte scharf kritisiert, dass der türkische Einmarsch in Teile Nordsyriens ohne Absprache mit den NATO-Verbündeten – außer den USA – durchgeführt worden war. Erdogan wiederum hatte versucht, die NATO zu bewegen, die syrisch-kurdische YPG zur „Terrororganisation“ zu erklären, und gedroht, andernfalls einen NATO-Verteidigungsplan für Polen und die baltischen Staaten zu blockieren. Davon ist er in London abgerückt.
Unklar ist, ob und, wenn ja, welche Gegenleistungen Erdogan dafür beim Treffen mit Merkel, Macron und Johnson erhalten hat. Nach der Zusammenkunft hatte es lediglich geheißen, man wolle gemeinsam „Bedingungen für eine sichere, freiwillige und tragfähige Rückkehr von Flüchtlingen“ nach Syrien schaffen.
Ankara will eine hohe Zahl syrisch-arabischer Flüchtlinge – die Rede ist von Millionen – in den von ihm besetzten Gebieten des Landes ansiedeln und damit einer kurdischen Autonomie auf Dauer die Grundlage entziehen. Die Vierergespräche sollen Anfang kommenden Jahres fortgesetzt werden.
Tatsächlich sind in den vergangenen Tagen zum wiederholten Mal schwerste Vorwürfe gegen die arabischen Milizen erhoben worden, die – militärisch und politisch unterstützt von Ankara – bereits im Oktober einen breiten Landstreifen Nordsyriens zwischen Tal Abyad und Ras al Ain okkupiert haben und seither dort die Herrschaft ausüben, in enger Absprache mit dem NATO-Partner Türkei. Hunderttausende kurdischsprachige Syrer sind seit dem Beginn des Einmarschs am 9. Oktober aus dem Gebiet vertrieben worden.
Türkische Stellen haben inzwischen begonnen, syrisch-arabische Flüchtlinge in die besetzten Gebiete abzuschieben, aus denen syrisch-kurdische Einwohner zuvor systematisch vertrieben wurden. Maßnahmen dagegen wurden auf der Londoner Zusammenkunft nicht getroffen; faktisch liegt damit ein Freibrief für die türkische Regierung vor.
In der Abschlusserklärung zu ihrem Jubiläumstreffen hat sich die NATO erstmals auch explizit zu China geäußert. Vor allem Washington hatte darauf gedrungen; US-Außenminister Mike Pompeo hatte die Volksrepublik bereits im April anlässlich des 70. Jahrestages der NATO-Gründung ausdrücklich als „Bedrohung“ klassifiziert und gefordert, das Kriegsbündnis müsse sich dieser Bedrohung „entgegenstellen“. Allerdings teilen nicht alle Bündnismitglieder diese Position. So kooperieren mehrere südeuropäische NATO-Staaten recht eng mit Peking, darunter Griechenland, Italien und Portugal. Auch Großbritannien patrouilliert zwar zuweilen mit Kriegsschiffen im Südchinesischen Meer, setzt aber zugleich – vor allem mit Blick auf den Brexit – auf ökonomische Kooperation.
Ähnlich widersprüchlich ist die Interessenlage auch in Deutschland. Zwar machen sich vor allem transatlantische Kräfte seit geraumer Zeit für eine schärfere Konfrontationspolitik gegenüber China stark – in der Annahme, die Volksrepublik werde langfristig übermächtig werden, ihr Aufstieg sei daher so bald wie möglich zu stoppen. Andererseits ist ein wachsender Teil der deutschen Wirtschaft existenziell auf die Zusammenarbeit mit China angewiesen, darunter mächtige Autokonzerne wie VW. Eine Umfrage unter Spitzenkräften in deutschen Firmen und Unternehmerverbänden ergab unlängst, dass zwar mehr als drei Viertel der Befragten fürchteten, „zukünftig vermehrt dem Druck“ der Vereinigten Staaten und der Volksrepublik ausgesetzt zu sein, sich für eins der beiden Länder „zu entscheiden“. Doch gab bereits ein Drittel der Führungskräfte aus der Wirtschaft an, in diesem Fall für China zu optieren.
Auf dem NATO-Jubiläumstreffen ist es Washington nicht gelungen, eine ausschließlich konfrontative Politik gegenüber Peking festzuschreiben. So heißt es in der Abschlusserklärung: „Wir erkennen, dass der wachsende Einfluss und die internationale Politik Chinas sowohl Chancen als auch Herausforderungen darstellen, die wir als Allianz zusammen angehen müssen.“ Auch einem Ausschluss des Huawei-Konzerns vom Aufbau der 5G-Netze in NATO-Staaten verweigerte das Bündnis die Zustimmung.