Mitte Februar 2021 ist eine Studie der Informationsstelle Militarisierung (IMI) von Andreas Seifert erschienen. Unter dem Titel „China gegen den Rest der Welt? Zur Neuordnung der Weltpolitik“ bemüht sich der Autor um eine nüchterne Darstellung von Fakten. Ihre kritischen Bewertungen beschränken sich auf einzelne äußere und momentane Erscheinungsformen, auch was die innere Entwicklung der Volksrepublik betrifft. Vor allem fehlt der Analyse der „Neuordnung der Welt“ die historische und politisch-ökonomische Einordnung und Bewertung im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen imperialistischen und antiimperialistischen Kräften und der Perspektiven für eine friedliche Entwicklung der Welt.
Seifert spricht von einem „Niedergang des Westens“ und einem „wirtschaftlichen Aufstieg Chinas“. Dabei gehe es „in der Analyse ein Stück darum, ob man den Aufstieg Chinas als Bedrohung der eigenen ökonomischen Position begreift oder (einfach nur) als Bedrohung eines zusehends dysfunktionalen kapitalistischen Wirtschaftssystems“. Eine Antwort dazu lässt die Studie offen.
Zur innenpolitischen Entwicklung anerkennt die Studie, dass die VR China „viel geleistet und viel zu bieten“ habe. Es habe ein als „Korruptionsbekämpfung getarnter Generationswechsel der KP-Elite“ stattgefunden. Dieser habe dazu geführt, dass sich „in Teilen ein neues ‚Miteinander‘ ergeben“ habe und „die Partei derzeit an dem von Xi Jinping vorgegebenen Kurs bis in ihre kleinsten Gruppen“ mitziehe. Mit Hilfe räumlicher Neuordnung und umfangreicher Infrastruktur habe die Volksrepublik zwar weite Teile des eigenen Landes planmäßig erschlossen, dabei aber auch „Gegenden entvölkert“. Sie versuche „eine an die Klimaerwärmung angepasste Wirtschaftsentwicklung zu leisten (…) Statt in dreckige Industrien oder Massenproduktion wird inzwischen in Schlüsselindustrien und -technologien investiert.“ Auch im Bereich der Chip-Produktion oder beispielsweise bei der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz mache die VR China große Fortschritte. „Das Generalstabsmäßige an dieser Entwicklung mag erschrecken, aber man kann sich hier tatsächlich etwas abschauen.“
Auf der anderen Seite sei die VR China „ein autokratisches System, das konsequent das Wohlergehen der Han-chinesischen Mehrheit im Blick hat und den Machterhalt der KPCh als Grundbedingung jeder weiteren Entwicklung begreift. Dissens wird innerhalb Chinas gnadenlos verfolgt und, so er von außen kommt, geflissentlich überhört oder abgestraft. China kann hier kein Vorbild sein!“ Eine allumfassende digitale Kontrolle, keine unabhängige Berichterstattung, keine Vereinigungsfreiheit außerhalb der vorgegebenen staatlich und von der Partei kontrollierten Verbände kennzeichnen nach Seifert das Leben in China.
Zur aktuellen Außenpolitik Pekings schreibt Seifert: „Unter Xi Jinping ist es der Volksrepublik China gelungen, sich zum Bewahrer einer positiv besetzten Globalisierung zu stilisieren.“ Sie verspreche gegenseitige Vorteile durch freien, fairen und regelbasierten Handel, „obwohl das wirtschaftspolitische Handeln der VR das genaue Gegenteil hiervon ist“. Dies gelte im Grunde auch für die Projekte der chinesischen „Belt and Road“- beziehungsweise „Neue Seidenstraße“-Initiative.
Zur militärischen Rolle Chinas im internationalen Rahmen heißt es dann: „Militärische Präsenz und militärische Drohgebärden gehören auch in der VR China zum außenpolitischen Repertoire … Mit Japan liefert man sich seit Jahren eine Aufrüstungsspirale und auch in Südostasien ist durch das Auftreten chinesischer Flottenverbände eine Rüstungsdynamik entstanden.“ Die VR China engagiere sich zunehmend auch im Mittleren Osten. „Und wie der Westen zunehmend China als Bedrohung antizipiert, begreift auch die VR den ihr entgegengebrachten Widerstand als Bedrohung ihrer Interessen und Bürger im Ausland.“ Überdies erweitere sie ihr Engagement in internationalen Organisationen und nütze auch „die Dysfunktionalität der US-Administration unter Donald Trump im Umgang mit der Pandemie“ aus, um ihren Einfluss zu erweitern.
Was demgegenüber die aktuelle Position der USA beziehungsweise die des neuen Präsidenten Joe Biden anlangt, stellt der Verfasser nur sehr allgemein fest: „Wenn es um die Frage des weiteren Aufstiegs Chinas und der anstehenden klimapolitischen Ausrichtung der Weltwirtschaft“ gehe, werde „der Kern der Politik gegenüber China auch unter seiner Präsidentschaft der gleiche sein: China bleibt ein strategischer Rivale – technologisch, wirtschaftlich und militärisch … Und auch nun steht zu erwarten, dass die Rüstungsindustrie weiter gefördert und die Position der USA als Waffenexporteur ausgebaut wird.“
Insgesamt entsteht so ein Bild der Volksrepublik als das einer aufstrebenden Macht, von deren wirtschaftlicher und Technologieentwicklung „man sich etwas abschauen“ könne, die aber im Innern autokratisch bei allumfassender Kontrolle regiert wird im Interesse der Vorherrschaft einer Partei und der Han-Chinesen auf Kosten der Meinungsfreiheit und der Rechte von Minderheiten. Insoweit könne das Land für uns, beziehungsweise „den Westen“, kein Vorbild sein.
Auf der globalen Ebene wird die VR China als militärisch zunehmend stärkere Macht beschrieben, die inzwischen dieselben Ziele verfolge wie der Westen und auf die gleichen politisch-strategischen Mittel und Instrumente setze. Insgesamt agiere sie wie eine neue militaristische Macht.
Damit verkennt der Autor entscheidende Unterschiede: Auf der einen Seite der Westen, geprägt von imperialistischer Politik im Interesse der Monopolkapitale mit verheerenden Auswirkungen für die Welt und damit verbundener Kriegsgefahr – auf der anderen Seite eine im Kern antiimperialistische, am Überleben der gesamten Menschheit orientierte und im Ergebnis auch friedenssichernde Politik der Volksrepublik.
Die VR China beschreibt sich selbst in ihrer Verfassung als eine „Diktatur des Volkes“. Zum Autokratismus-Vorwurf könnte man auch einen Vergleich mit den westlichen „Demokratien“ anstellen. Deren parlamentarische Systeme entwickeln immer plutokratischere Züge. Nicht eine führende Partei hat das Sagen, sondern – verborgen hinter dem Mehrparteiensystem – letztlich die alles durchdringenden privaten Monopolkapitale – einschließlich der Hegemonie über unser Bewusstsein. Im Übrigen müssen auch kritische Kommentatoren inzwischen einräumen, dass die Entwicklung der Volksrepublik in den letzten 70 Jahren allen Menschen des Landes gedient und ihre Lebensbedingungen verbessert hat.
Zur Wirtschaftspolitik der VR China räumt Seifert ein, dass sich ihre „Entwicklungszusammenarbeit“ konzeptionell grundsätzlich „von der der OECD-Länder“ unterscheide: „China bietet hier ganz offensiv eine Alternative zu einer als politische und wirtschaftliche Gängelung empfundene ‚Hilfe‘ aus dem Westen.“
Unverkennbar ist, dass die Volksrepublik dabei eigene ökonomische und strategische Interessen verfolgt – warum auch nicht? Die neue, im vorigen Jahr beschlossene und im Fünfjahresplan vertiefte Zwei-Kreisläufe-Wirtschaftspolitik zeigt im Übrigen, dass die VR China existenziell und systemisch nicht auf die Ausbeutung dritter Länder angewiesen ist beziehungsweise nicht sein will, sondern sich in die Lage versetzen möchte, das Land autonom zu entwickeln.
Vor allem kann man den „Niedergang des Westens“ nicht ohne die Krise seines am Profitinteresse der privaten Monopolkapitale ausgerichteten Steuerungssystems begreifen. Die Studie spricht insoweit geziert von einem „zusehends dysfunktionalen kapitalistischen Wirtschaftssystem“. Dessen Krise geht – bei einer wachsenden Überproduktion und allem quantitativen Konsum – einher mit sich immer stärker verschärfenden wirtschaftlichen, sozialen, politischen und ökologischen Widersprüchen – und sie ist immer noch verbunden mit wachsender internationaler Konkurrenz sowie einer systemimmanenten Ausplünderung und/oder Bedrohung dritter Länder.
Wer die Entwicklung der VR China begreifen will, muss sich auch mit der „sozialistischen Marktwirtschaft“ und dem Bekenntnis der KPCh zur Entwicklung „eines Sozialismus chinesischer Prägung“ auseinandersetzen. Große Teile der Produktion und der Verteilung von Gütern und Dienstleistungen laufen in der Volksrepublik nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen, einschließlich des Konkurrenzprinzips, ab. Der Staat beziehungsweise die Kommunistische Partei geben mit den Fünfjahresplänen den ökonomischen Rahmen – inklusive der Investitionen – vor und steuern damit die politisch-gesellschaftliche Entwicklung insgesamt. Diese ist offenbar nicht durch dieselben systemischen Widersprüche wie die des Westens beeinträchtigt.
Vor allem muss man die derzeitige militärische Strategie der VR China vor dem Hintergrund der über 160 Jahre währenden blutigen kolonialen Ausbeutung durch den Westen begreifen. Sie ist nicht zu verstehen ohne die fortbestehende Bedrohung durch den westlichen Imperialismus. Die VR China reagiert auf die technologische und militärische Hochrüstung, die gezielten Versuche der ökonomischen und militärischen Einkreisung, die verschärfte psychologische Kriegsführung und die offensichtlichen Versuche der inneren Destabilisierung. Die Außen- und Verteidigungspolitik der Volksrepublik grenzt die aggressive Politik der imperialistischen Staaten und deren Kriegsmöglichkeiten ein. Damit sichert sie die internationale Ordnung und den Frieden. Das verdient Anerkennung und muss gegen die immer wütenderen Angriffe der aggressivsten Kräfte auch bei uns in Schutz genommen werden – in unserem ureigenen Interesse und dem unserer Nachkommen.
US-Präsident Joseph Biden hat in seiner ersten außenpolitischen Rede die VR China als den „ernsthaftesten Konkurrenten“ der USA bezeichnet. Obwohl oder gerade weil der von der Trump-Regierung begonnene Handelskrieg bislang nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt hat, soll nun die Aufrüstung noch einmal verschärft werden einschließlich einer nuklearen „Modernisierung“. In einer gemeinsamen Erklärung Joe Bidens und des japanischen Ministerpräsidenten Yoshihide Suga wird inzwischen offen der Einsatz von Atomwaffen angekündigt: Die USA stünden zu ihrer Verpflichtung, Japan zu verteidigen – „unter Anwendung der kompletten Bandbreite an Fähigkeiten“, auch der nuklearen. Die Bedrohung Japans durch die Volksrepublik wird allerdings nicht belegt.
Dazu gehören die deutschen Bestrebungen, sich am Aufmarsch im Indo-Pazifik zu beteiligen, angeblich um die „chinesische Aggressivität“ einzudämmen. In Wahrheit geht es um deutsche Großmachtansprüche – einschließlich der Durchsetzung ökonomischer Interessen, nachzulesen in den „Leitlinien zum Indo-Pazifik“ vom 1. September 2020.
Wer – und dies ist meine Hauptkritik an der Studie – all dies ausblendet, erweckt beim Leser gewollt oder ungewollt den Eindruck, dass die militärische Rüstung der VR China und ihre angeblichen „Drohgebärden“ in gleicher Weise beurteilt werden könnten wie die der USA und der NATO. Es geht nicht darum, das chinesische System insgesamt gutzuheißen oder gar dessen einfache Übertragung auf unsere gesellschaftliche, politische und staatliche Ordnung anzustreben. Wir müssen hier unsere eigenen Auseinandersetzungen führen und bewältigen und erzielte Teil-Errungenschaften verteidigen. Wir können auch nicht sicher beurteilen, in welche Richtung sich die Prozesse in der VR China entwickeln werden – eben weil es sich um Prozesse handelt.
Unsere Aufgabe ist es, gegen psychologische Kriegsführung anzugehen und alles zu tun, dass die Volksrepublik und ihre Entwicklung nicht ständig mit entstellender Propaganda und Falschmeldungen verteufelt werden. Damit fallen wir den Kriegstreibern gegen China und auch Russland in den Arm, die versuchen, die Bevölkerung wieder bereitzumachen für Kriege und die sogar so weit gehen, den Einsatz von Atomwaffen als Möglichkeit zu propagieren.
Das Pentagon benutzt China als Vorwand für riesige neue Budgets
Am Vorabend seines Asienbesuchs in dieser Woche umriss Verteidigungsminister Lloyd Austin seine Hauptsorge. (…) Er erklärte, dass sich die Vereinigten Staaten in den vergangenen 20 Jahren auf den Nahen Osten konzentriert hätten, während China sein Militär modernisiert habe. „Wir sind immer noch im Vorteil“, bemerkte er, „und wir werden den Vorsprung in Zukunft noch vergrößern.“
Was Austin als Amerikas „Vorsprung“ gegenüber China bezeichnet, ist eher eine Kluft. Die Vereinigten Staaten haben etwa 20-mal so viele Atomsprengköpfe wie China. Sie haben die doppelte Tonnage an Kriegsschiffen auf See, darunter elf Flugzeugträger mit Nuklearantrieb im Vergleich zu Chinas zwei Flugzeugträgern (die viel weniger modern sind). (…) China gibt rund 250 Milliarden Dollar für sein Militär aus, ein Drittel so viel wie die Vereinigten Staaten. Michael O‘Hanlon von der Brookings Institution stellt fest: „Wäre China in der NATO, würden wir es für seine unzureichende Lastenteilung beschimpfen, da seine Militärausgaben weit unter dem NATO-Minimum von 2 Prozent liegen.“ (…)
Und doch können sich die Vereinigten Staaten nicht vorstellen, dass diese Art von Ausgaben von anderen Ländern jemals als bedrohlich empfunden werden könnte.
Hinter diese Analyse von Fareed Zakaria in der „Washington Post“ vom 18. März 2021 sollte eine Studie der IMI nicht zurückfallen!