Nicht jedes Buch ist für einen Zehnjährigen geeignet – „Moby Dick“ scheidet zum Beispiel aus. Dennoch ist es genau dieses Buch, das die ehemalige Englischlehrerin Mildred Brewster ihrem Enkel Adam vorliest. Bis sie fertig sind, wird er fast 13 sein. „Der Roman zieht sich hin, aber die Kapitel sind kurz“, kommentiert Adam lakonisch und schlägt damit die Brücke zur eigenen Lebensgeschichte. Denn Adam ist der Ich-Erzähler in John Irvings neuestem Roman „Der letzte Sessellift“, einem mit mehr als 1.000 Seiten ebenfalls recht umfangreichen Wälzer. Aber immerhin: Die Kapitel sind kurz.
Eines Tages wird Adam ein erfolgreicher Schriftsteller werden. Doch der Weg dahin ist von unzähligen Irving-typischen Brüchen und tragisch-grotesken Ereignissen gesäumt. Das beginnt schon mit Adams Geburt im Jahr 1941. Er kommt als Sohn einer ehemaligen Profi-Skifahrerin und Sportfanatikerin zur Welt, von seinem Vater erfährt er zunächst nichts. Umso intensiver und zwiespältiger ist Adams symbiotisches Verhältnis zu seiner Mutter Rachel, die von allen nur Little Ray genannt wird. Für sie ist Adam „nicht nur der erste Mann in ihrem Leben“, sondern auch der einzige. Was das genau bedeutet, erfasst Adam, als er sie in flagranti mit der resoluten, aber gutherzigen Pistenpflegerin Molly („Mollys Blick konnte Schwänze schrumpfen lassen“) erwischt.
Weil Molly und Little Ray während der Skisaison in den Bergen arbeiten, wächst Adam bei seinen Großeltern auf. Die von „Moby Dick“ besessene Großmutter lebt mit ihrem schweigsamen Mann zusammen, der sich in zunehmender Umnachtung für den ehemaligen Direktor einer Schule hält. Während Adam die elitäre Jungen-Akademie in Exeter (New Hampshire) besucht, lernt er den kleinen Englischlehrer und Ringertrainer Elliot Barlow kennen und stellt ihn seiner Mutter vor, die ihn alsbald heiratet – sehr zum Unmut von Adams biestigen Tanten, die ihn verächtlich als „Zwergtunte“ abstempeln. Geboren ist die queere Familienzusammenstellung, die Adams Leben prägen und ihn bei der Suche nach seinem Vater, nach literarischem Erfolg und einem eigenen Lebensmittelpunkt unterstützen wird.
Wer nun glaubt, dass John Irving mit diesen Ausgangsvoraussetzungen einfach auf den identitätspolitischen Hype aufspringt, irrt sich. Schon in seinen früheren Werken nahmen sexuelle Befreiung, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung einen wichtigen Raum ein. Der aktuelle Roman liest sich in großen Teilen wie eine konsequente Weiterentwicklung der Gedanken, die beispielsweise schon in „Garp und wie er die Welt sah“ (1978) begonnen wurden. Das trifft auch auf die aus dem „Garp“ bekannten „Ellen-Jamesianerinnen“ zu, eine radikalfeministische Gruppe von Frauen, die sich aus Solidarität mit einem Vergewaltigungsopfer selbst die Zungen herausschnitten und fortan schweigend durch die Gegend zogen. Im „Sessellift“ treffen die Leser hingegen auf Em, die Freundin von Adams lesbischer Cousine Nora. Em weigert sich zu sprechen. Stattdessen drückt sie sich pantomimisch aus und macht aus ihrer vermeintlichen Schwäche eine Stärke. Im Laufe des Romans werden die beiden als Comedy-Duo mit dem Programm „Zwei Lesben, eine spricht“ auftreten, um das biedere New Yorker Publikum zu provozieren. Erstaunlich ist, wie es Irving gelingt, dieser Figur, die nur an wenigen Dialogen direkt teilnehmen kann, Leben einzuhauchen.
Überhaupt gehört die Einführung der Charaktere zu den großen Stärken des Romans. Das liegt vor allem an der erlebten Nähe zum Ich-Erzähler. Wer Adams Blick auf die Welt kennengelernt hat, kann sich das Mädchen vorstellen, das von ihm als „sehr hübsch, auf eine literarische, beschädigte, tragische Weise“ beschrieben wird. Schon bald wirken die Figuren vertraut, ist das Interesse an ihrem Entwicklungsweg geweckt. Dieser zieht sich innerhalb des Romans durch die Jahrzehnte von den 1950er Jahren bis fast in die Gegenwart.
Hinzu kommt die hemmungslose Vermischung von realen und fiktiven Biografien. Adam trifft etwa auf den Schriftsteller Kurt Vonnegut, spottet über „den kinnlosen Mitch McConnel, den schwanzlosen Lindsey Graham und die feigen Republikaner im Senat“. Der Schauspieler Lex Barker kreuzt seinen Lebensweg gleich mehrmals, zum Schluss sogar als eines von mehreren Gespenstern, die das Luxushotel Jerome in Aspen bevölkern. Wie erfolgreich diese Gratwanderung ist, belegen zahlreiche Google-Anfragen und Forenbeiträge im Internet, die sich erfolglos nach den Biografien des Film-Noir-Schauspielers Paul Goode oder der österreichischen Spitzenskiläuferin Monika Behr erkundigen – beide sind Erfindungen Irvings.
Adam muss sich jedoch nicht nur mit einer ganzen Reihe von Personen herumschlagen, sondern auch mit politischen Ereignissen. Er opponiert gegen den Vietnamkrieg und gegen den Umgang mit der Aids-Epidemie und bleibt doch stets passiv. Fast scheint es, als würde ihm sein Leben ohne eigenes Zutun passieren. Das liegt auch an der bis ins hohe Alter fortgezeichneten Infantilisierung des Protagonisten, dessen Weltanschauung den Kategorien seiner Jugend treu bleibt.
Die soziale Frage spielt für Adams kleinbürgerliches Umfeld, dem es niemals an Geld zu mangeln scheint, eine untergeordnete Rolle. Im Mittelpunkt stehen vielmehr gesellschaftspolitische Veränderungen, die losgelöst von ihrer materiellen Basis betrachtet und vor allem von Nora und Em scharf kritisiert werden. Im Flug durch die Jahrzehnte bis hin zur Wahl Donald Trumps zeigt Irving dabei – ob absichtlich oder nicht – das Scheitern dieses Kampfes. Werden doch Erfolge, beispielsweise bei der Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, immer wieder zurückgedreht. Diese Bestandslosigkeit könnte der heutigen Linken, die sich auf Identitätspolitik versteift, zur Mahnung gereichen. Übersieht sie doch die Notwendigkeit, die Verhältnisse umzuwälzen, die Krieg, Elend und Sexismus produzieren. Darin unterscheidet sie sich kaum von Irvings Figuren – nur, dass sich Letztere ihrer Passivität bewusst sind.
John Irving
Der letzte Sessellift
Diogenes Verlag, 1.088 Seiten, 36 Euro