Bundestag beschließt Reformen im Migrationsrecht

Chancenverhinderung

Am 2. Dezember hat der Bundestag die ersten zwei Gesetzesvorhaben im Bereich des Aufenthaltsrecht beschlossen. Mit 371 von 654 abgegebenen Stimmen passierten das „Chancen-Aufenthaltsrecht“ und das „Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz“ das Parlament. Für das dritte Projekt der Ampelkoalition im Bereich des Migrationsrechts, das neue Fachkräftezuwanderungsgesetz, liegt momentan lediglich ein Eckpunktepapier vor.

Zentrale Vorschrift im neuen Aufenthaltsrecht ist Paragraf 104c AufenthG: Wer zum Stichtag 31. Oktober 2022 fünf Jahre in der Bundesrepublik gelebt hat und nicht straffällig geworden ist, soll 18 Monate Zeit bekommen, um die Voraussetzungen für einen langfristigen Aufenthalt zu erfüllen. In dieser Frist soll er nachholen können, was in den zurückliegenden fünf Jahren nicht gelungen ist, nämlich den Erwerb von zertifizierten Deutschkenntnissen, die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts und die Klärung der Identität. Gelingt es, die Voraussetzungen zu erfüllen, wird dem Betroffenen ein dauerhafter Aufenthalt gewährt, gelingt es nicht, fällt man wieder in den Status der Duldung zurück.

Das was die Ampelkoalition als „Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik“ (Grünen-Chef Omid Noripour) oder „ein Zeichen im Sinne von Fairness, Partizipation, Anerkennung und Respekt“ (SPD-Abgeordneter Adis Ahmetovic) ausgibt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Fortsetzung der bisherigen Praxis unter anderer Überschrift. In Deutschland leben zur Zeit etwa 242.000 Ausländer, die lediglich geduldet sind, sprich, die jederzeit mit ihrer Abschiebung rechnen müssen. Etwa 140.000 von ihnen leben seit über fünf Jahren im Status der Duldung. Typischerweise sind dies Asylantragsteller, die nach ihrer Anhörung vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) negative Bescheide erhielten und dagegen erfolglos den Gerichtsweg beschritten. Die Verfahren vor den Verwaltungsgerichten dauern oft mehrere Jahre. Duldungen werden in den überwiegenden Zahl der Fälle nur jeweils auf drei Monate gewährt und immer wieder verlängert („Kettenduldungen“).

Die Kettenduldungen nehmen den Betroffenen jegliche soziale und berufliche Perspektive und reihen sie, wenn sie überhaupt eine Beschäftigungserlaubnis erhalten, in das Heer der Leiharbeiter ein. Der Erwerb beruflicher Qualifikationen ist unter dem Damoklesschwert der ständig drohenden Abschiebung nicht möglich. Fehlt ein gültiger Identitätsnachweis (Reisepass des Herkunftslandes) werden Beschäftigungserlaubnisse regelmäßig nicht erteilt. Bearbeitungszeiten bei den Botschaften afrikanischer Staaten in Deutschland betragen zwischen Antragstellung und Passerteilung oft mehr als zehn Monate, was auch daran liegt, dass zur Beantragung Geburtsurkunden vom Betroffenen erst im Herkunftsland besorgt werden müssen. Jene Migranten, die aus Ländern kommen, die in Deutschland keine Botschaft haben (wie zum Beispiel Gambia), sind darauf angewiesen, sich ihre Reisepässe im Heimatland durch Beauftragung professioneller Dritter selbst zu beschaffen. Die Kosten hierfür sind in der Regel immens und können nur selten aufgebracht werden. Da die Identitätsklärung nach wie vor Voraussetzung zur Erlangung eines Aufenthaltstitels ist, soll nun auf wundersame Weise, das was über fünf Jahre nicht gelungen ist, binnen weiter 18 Monate gelingen.

Die Ampelkoalition schätzt die Wirksamkeit ihres eigenen Gesetzes selbst wenig enthusiatisch ein: Sie rechnet mit einer Erfolgsquote von 34.000 Fällen, mehr als 200.000 Betroffene bleiben folglich weiterhin auch im sechsten und siebten Jahr ihres Aufenthalts in Deutschland im Status der Duldung. Dementsprechend sieht das Gesetz zugleich eine Verlängerung der Abschiebehaft vor, damit die „Rückführung“ flexibel erfolgen kann. Ergänzt wird dies durch das Asylverfahrensbeschleuigungsgesetz. Aus Kreisen der Flüchtlingsverbände und der Anwaltschaft wird vor allem die weitere Einschränkung von Verfahrensrechten gerügt. Beweisanträge werden erschwert, Rechtsmittel abgebaut, das schriftliche Verfahren erweitert, die persönliche Anhörung des Betroffen dadurch entwertet. Das vermeintliche Chancen-Aufenthaltsrecht ist ein Wahrheit ein Chancen-Verhinderungsrecht.

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"Chancenverhinderung", UZ vom 9. Dezember 2022



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