Bildungspflicht ist keine Alternative zum kaputten Schulsystem

Chancenlos

Anna Cordi

Sichere Bildung jetzt! Eine Forderung, der sich leidgeplagte Eltern unbedingt anschließen können. Endlich Sicherheit, dass nächste Woche nicht schon wieder drei Stunden Unterricht ausfallen. Endlich Sicherheit, dass der Mathe-Förderkurs zustande kommt. Endlich Planungssicherheit, dass die Klassen nicht zusammengelegt werden, weil eine Lehrkraft langzeitig erkrankt ist. Die Initiative „Sichere Bildung“ fordert aber etwas ganz anderes, nämlich die Aussetzung der Präsenzpflicht. Die Eltern sollen selbst entscheiden dürfen, ob dem Kind der Unterricht zuzumuten ist oder nicht.

Mit den flächendeckenden Schulschließungen zu Beginn der Corona-Pandemie wurde in Deutschland eine Diskussion populär, die es in den letzten Jahren kaum über ein paar Inte­ressengruppen hinaus geschafft hat. Auf einmal steht die Schulpflicht wieder zur Disposition – stattdessen fordern Bildungsforscher, besorgte Eltern und Digitalisierungsjünger eine Bildungspflicht. Anstatt die Kinder in die Schule zu zwingen und diese Pflicht notfalls mit staatlichen Mitteln gegen den Willen der Beteiligten durchzusetzen, sei eine Bildungspflicht dagegen sehr viel demokratischer, sinnvoller und zeitgemäßer. Durch das Aufgreifen von offensichtlichen Mängeln unseres Bildungssystems wie zu große Klassen oder unzureichend ausgestattete Schulen wirkt die Forderung verlockend. Die verrückte Idee, alleine und ohne jede Vorgaben besser lernen zu können, hat viele verrückte Anhänger.

Die allgemeine Schulpflicht, wie sie in Deutschland erst seit 1919 vorgeschrieben ist, war ein Kompromiss. Ein Kompromiss deshalb, weil es außer in der DDR nie eine gemeinsame Schule für alle Kinder gab. Gleichzeitig war sie eine demokratische Errungenschaft, die es auch heute noch zu verteidigen gilt. Mit der Einführung einer mindestens vierjährigen Grundschule wurde wenigstens eine zentrale Forderung der Arbeiterbewegung verwirklicht. Und dass jedes Kind in Deutschland zur Schule gehen darf, wurde und wird heute garantiert durch die allgemeine Schulpflicht. Diese verpflichtet jede Familie, jedes Kind zur Schule zu schicken. Egal ob Junge oder Mädchen, egal ob vermeintlich hoch- oder tiefbegabt. Und die Schulpflicht verpflichtet den deutschen Staat gleichzeitig dazu, wenigstens ein Minimum an Standards für alle Kinder bereitzustellen. Das gegliederte Schulsystem sorgt dafür, dass diese Standards höchst unterschiedlich sind. Die Standards werden dank der massiven Einsparungen jährlich lausiger. Und dennoch: jedes Kind kann sich sicher sein, dass es in Deutschland einen Platz in einer Schule bekommt. Jeden Morgen wird eine Lehrkraft darauf warten, dass es sich auf seinen Stuhl setzt. Dies hat der Staat zu leisten, das ist seine Schulpflicht.

Bei der Bildungspflicht sieht das ganz anders aus. Hier wird nur erwartet, dass das Kind, der Jugendliche etwas lernt – egal wie. An die Stelle der staatlichen Verantwortung für alle tritt die völlig individualisierte Bildungsbiographie, in der nicht einmal der Versuch unternommen werden soll, eine Chancengleichheit herzustellen. Als mittelfristige Ziele gibt die Initiative „staatliche Anerkennung von Online-Schulen als Ersatzschulen“ an und bei langfristigen Zielen wird es noch deutlicher: „Bildungs- statt Präsenzpflicht“. Da helfen auch die frommen Wünsche nach Vielfalt, Chancengerechtigkeit und Inklusion im Bildungswesen nichts. Die Ziele dieser und ähnlicher Initiativen sind elitär und undemokratisch und haben mit linken Forderungen nicht das geringste zu tun.

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"Chancenlos", UZ vom 25. Februar 2022



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