Versuch einer dialektischen Betrachtung – Vertiefung zum Leitgedanken 2

Chancen und Gefahren der multipolaren Welt

Uli Macher

Derzeit diskutieren die Gliederungen der DKP in Vorbereitung des 26. Parteitags zehn Leitgedanken. Der Parteivorstand hat in den Leitgedanken seine Analyse der Entwicklung des Imperialismus und der Kräfteverhältnisse dargelegt. Im Rahmen der Referatsdiskussion auf dem Parteitag im Juni 2025 sollen die kollektiven Diskussionsergebnisse eingebracht werden. Zur Unterstützung der Aneignung der Positionen des Parteivorstands und damit der Herstellung eines einheitlichen Wissensstands in der Partei erscheinen in der UZ Artikel zur Vertiefung der einzelnen Leitgedanken. Wir haben die Beiträge unter folgendem Link zusammengefasst: uzlinks.de/parteitag

Im Leitgedanken 1 formuliert die DKP: „Die internationalen Verhältnisse befinden sich in einem rasanten, widerspruchsvollen Veränderungsprozess“ und konstatiert im Folgenden: „Die Weltkriegsgefahr steigt.“

Angesichts der Dialektik dieses Veränderungsprozesses ist es hilfreich, einige dialektische Denkfiguren in Erinnerung zu rufen und die Sache damit näher zu beleuchten.

Das Wahre ist das Ganze

Eine ganzheitliche Betrachtungsweise ist unerlässlich und liegt bei der Analyse der globalen Entwicklung förmlich auf der Hand. „Das Ganze“ ist im philosophischen Sinne ein spekulativer Begriff, das heißt: Es kann wegen des begrenzten Erkenntnisvermögens des Menschen nur konstruiert werden. Bei der Analyse der internationalen Verhältnisse bietet sich diese Konstruktion über die historischen, regionalen und inhaltlichen Aspekte an.

So ist zum Beispiel in der friedenspolitischen Debatte Usus, dass der Ukraine-Krieg nicht verstanden werden kann ohne die geschichtliche Dimension – hier: die vorangegangene NATO-Einkreisung Russlands.

Die rasante ökonomische Entwicklung Chinas erklärt sich nicht aus sich heraus, sie hat vielmehr mit anderen Regionen der Welt zu tun: Im August 2024 fand etwa das „Forum on China-Africa Cooperation“ (FOCAC) statt, auf dem der Ausbau der Beziehungen zwischen China und den Staaten des afrikanischen Kontinents vereinbart wurde.

Die internationalen Verhältnisse können unter zahlreichen inhaltlichen Gesichtspunkten betrachtet und in Beziehung zueinander gesetzt werden: So lag die globale Wirtschaftsleistung Chinas 2022 mit 18,4 Prozent höher als die der USA mit 15,5 Prozent. Auch die Frage der Rohstoffe und ihrer Verarbeitung kann in den Blick genommen werden. So schreibt das „Handelsblatt“ im August: „Wer die wichtigen Rohstoffe abbaut und produziert, hat auch geopolitisch die Macht. Derzeit entfallen auf China etwa 90 Prozent der Weiterverarbeitung von Seltenen Erden zu Hochleistungsmagneten, die vor allem für Elektroautomotoren benötigt werden.“

Die Herausforderung des ganzheitlichen Denkens ist, die Elemente in ihrer Mannigfaltigkeit zur Kenntnis zu nehmen, in Beziehung zu setzen und mit anderen Elementen zu einem Gesamtbild zusammenzufügen.

Einheit / Identität der Gegensätze

Hier können die Schulden des einen Staates genannt werden, die zugleich einen Anspruch des anderen ausmachen. China ist mit 800 Milliarden US-Dollar der größte Gläubiger der USA. Beide Staaten sind in Hinblick auf die Schuldenproblematik nur als Einheit zu erfassen. Die Gegensätze „Schuld – Anspruch“ sind insofern identisch, als China aus diesem Verhältnis die Verpflichtung (Schuld) eingeht, Waren zu liefern und die USA den Anspruch haben, Produkte von China geliefert zu bekommen. Für unsere Analyse ist dieses „Gesetz der Dialektik“ wichtig, um die gegenseitige Bedingtheit eines Sachverhalts und die sich daraus ergebende Dynamik zu erfassen: Der Anspruch Chinas gegenüber den USA ist einerseits ein Ausdruck ökonomischer Stärke Chinas; zugleich birgt dieses Verhältnis aber auch ein erhebliches finanzielles Risiko – im Falle eines Zahlungsausfalls beziehungsweise einer Zahlungsverweigerung.

Quelle von Bewegung

Der deutsche Imperialismus verzichtete auf eine günstige Energieversorgung durch russisches Gas und damit auf einen Vorteil in der globalen Konkurrenz zugunsten „höherer“, längerfristiger Ziele: Das Wiedererstarken Russlands nach seiner „Schwächephase“ zu verhindern und das Land in der Rolle des billigen Rohstofflieferanten zu halten.

Die relative Schwächung des „Wertewestens“ im Verhältnis zum Globalen Süden machte ihn aggressiver und offensiver. Der Widerspruch besteht darin, dass diese Entwicklung zu dem Prozess der Annäherung, Stärkung und Verbreiterung des Staatenbündnisses BRICS führte.

In unseren Debatten sollten wir den Widerspruch nicht verarbeiten als einen „Denkfehler“, sondern uns bewusst auf die Suche nach ebensolchen Widersprüchen machen, um den Gegenstand der Betrachtung in seiner Komplexität zu erfassen.

Keine Tendenz ohne Gegentendenz

Die Haupttendenz, die wir im Leitgedanken 2 beschrieben haben, ist eindeutig: „Die Weltkriegsgefahr steigt.“ Doch eben weil der Imperialismus einen solchen Weltkrieg vorbereitet, gibt es Gegenkräfte, gibt es Erkenntnisse von Menschen, die sich in der Friedensbewegung organisieren. Die Demo am 3. Oktober ist dafür ein Beispiel. Es wäre fatal für unsere Analyse, wenn wir aus lauter Verzweiflung angesichts der dramatischen Entwicklung die Gegenkräfte, die Gegentendenzen aus dem Blick verlören.

Negation der Negation

Die Negation der Negation ist das Entwicklungsgesetz der Dialektik, das sich am Beispiel Chinas beschreiben lässt: Die Volksrepublik schaffte es, durch Produktivkraftentwicklung den Zustand der absoluten Armut abzuschaffen (zu negieren) und ist auf dem Weg, auch das bis dahin Erreichte auf eine neue Stufe zu heben – nämlich die der Abschaffung auch der relativen Armut (im Verhältnis zu den imperialistischen Ländern). Und damit ist die Grundlage gelegt für die erneute „Negation“ – eine weitere Entwicklung.

Mit der bewussten Anwendung der Denkfigur der Negation der Negation haben wir die Möglichkeit, den Blick zu schärfen für Entwicklungen und Chancen. Aber auch für Gefahren, denn die „Negation“ des einen Zustands bedeutet nicht zwangsläufig eine positive Veränderung: Die „alte Weltordnung“ unter der US-Hegemonie befindet sich gerade im „Prozess der Negation“ – der neue Zustand jedoch ist noch nicht erreicht, befindet sich im Fluss.

Alles Mögliche drängt zur Verwirklichung

Viele Länder des Globalen Südens sind angesichts der weltweiten Kräfteverschiebungen – vor allem des ökonomischen Erstarkens Chinas – in der Lage, sich aus dem Würgegriff der imperialistischen Staaten zu lösen und ihre Handelspartner aus freien Stücken auszusuchen. Diese Entwicklung ist noch kein Freiheitsversprechen, erst recht noch kein Schritt zum Sozialismus. Aber sie deutet auf neue Möglichkeiten und Chancen hin.

Einige Länder versuchen, sich der Dominanz des US-Dollars zu entziehen, indem sie ihren Handel in nationalen Währungen abwickeln. Damit ist noch keine neue Weltwährung geschaffen, es zeigen sich aber zarte Pflanzen der währungspolitischen Emanzipation.

Mit dieser Denkfigur entwickeln wir eine Sensibilität gerade für beginnende, ganz neue Prozesse, die jedoch in ihrer weiteren Entwicklung eine große Bedeutung bekommen können.

Der qualitative Sprung

Mit diesem „dialektischen Gesetz“ wollen wir den Blick für „Kristallisationspunkte“ schärfen. Langsame, stetige (quantitative) Entwicklungen können sich zuspitzen, entladen – und zwar in positiver oder negativer Hinsicht: Ein „Immer mehr“ an Rüstungsgütern kann zur Eskalation führen, zu einem Weltkrieg. Gleichzeitig gibt es in Anbetracht des jahrzehntelangen Ausbeutungsverhältnisses immer wieder Ausbruchsversuche.

Wir leben in einer Zeit der rasanten Veränderungen. Gerade jetzt sollten wir uns der Dialektik erinnern, des ganzheitlichen Denkens in Prozessen und Widersprüchen.

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"Chancen und Gefahren der multipolaren Welt", UZ vom 15. November 2024



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