Fast 50 Jahre nach seinem Tod verdichten sich in Chile die Hinweise darauf, dass der Dichter Pablo Neruda ermordet worden ist. Der Literatur-Nobelpreisträger war am 23. September 1973 gestorben, nur wenige Tage nach dem faschistischen Putsch des Generals Augusto Pinochet – und nur einen Tag bevor er nach Mexiko gehen wollte, das ihm Asyl angeboten hatte. Die Junta hatte damals Prostatakrebs als Todesursache angegeben. Schon damals wurde diese Erklärung in Chile und international mit Skepsis aufgenommen, doch unter der bis 1990 herrschenden Militärdiktatur war eine Aufklärung der wahren Umstände kaum möglich. Erst 2013 wurden die sterblichen Überreste Nerudas exhumiert, nachdem ein Gericht einer entsprechenden Klage der Kommunistischen Partei stattgegeben hatte. In dem 2017 veröffentlichten Untersuchungsergebnis einer internationalen Expertenkommission konnten die Wissenschaftler Krebs ausschließen, kamen aber noch zu keinem klaren Ergebnis, was die wahre Todesursache war.
Nun scheint klar zu sein, dass Neruda vergiftet worden ist. Schon 2017 hatten Forscher des Zentrums für alte DNA der McMaster University in Kanada sowie der Abteilung für forensische Medizin der Universität Kopenhagen in Dänemark im Körper des Dichters Clostridium botulinum nachweisen können. Dieses Bakterium produziert „eines der tödlichsten bekannten Gifte“ und sei in verschiedenen Ländern als biologische Waffe eingesetzt worden, heißt es dazu auf der Homepage der kanadischen Hochschule. Im Auftrag der ermittelnden Richterin Paola Plaza setzten die Wissenschaftler ihre Arbeit fort, um herauszufinden, ob das Gift den Tod Nerudas verursacht haben könnte. In der vergangenen Woche überreichten sie nun ihren Abschlussbericht. Demnach war das Gift im Körper des Dichters aktiv, als dieser starb, kam also nicht erst nach seinem Tod etwa durch Umwelteinflüsse in den Leichnam. Allerdings konnten die Akademiker nicht exakt feststellen, wie der toxische Stoff in den Körper gelangt ist. Eine der beteiligten Medizinerinnen, Debi Poinar, erklärte dazu vorsichtig: „Es wird vielleicht unmöglich sein, eine endgültige Antwort zu geben, wie der Dichter gestorben ist, aber die Möglichkeit einer durch Dritte verursachten Vergiftung konnte durch die bislang gefundenen wissenschaftlichen Beweise nicht ausgeschlossen werden.“
Allerdings entsprechen die Ergebnisse der Untersuchung den Aussagen von Nerudas ehemaligem Assistenten und Chauffeur Manuel Araya. Dieser berichtete unter anderem im Gespräch mit der kubanischen Nachrichtenagentur Prensa Latina, dass Neruda bei guter Gesundheit gewesen und vor allem aus Sicherheitsgründen in das Krankenhaus Santa María gebracht worden sei, weil Soldaten sein Haus in Isla Negra belagert hatten. „Als ich am 23. September in die Klinik kam, sagte mir Neruda: Sie haben mir eine Spritze in den Magen gegeben und ich verbrenne. Ich untersuchte ihn und er hatte einen roten Fleck von der Größe einer Fünf-Peso-Münze. Ich feuchtete ein Handtuch an und legte es ihm auf den Bauch.“ Prompt sei ein „blonder Arzt“ erschienen und habe ihn fortgeschickt, um ein Medikament zu besorgen, das Nerudas Leben retten sollte. Er habe zwar protestiert, dass dies die Aufgabe der Klinik sei, habe sich aber auf den Weg gemacht. Unterwegs sei er von Soldaten aufgehalten und verhaftet worden. Wie tausende andere politische Gefangene wurde er in das von den Putschisten zum Konzentrationslager umfunktionierte Nationalstadion gebracht. Neruda starb noch am selben Abend.
Die Bewertung der Untersuchungsergebnisse ist nun Aufgabe von Richterin Plaza. Sie muss entscheiden, ob die Beweise ausreichen, um offiziell eine Tötung Nerudas festzustellen oder ob sie weitere Nachforschungen anordnet. Für Araya steht längst fest: Der Dichter wurde auf Befehl Pinochets ermordet.
Der 1904 in Parral geborene Pablo Neruda hatte in den 1920er und 1930er Jahren als Diplomat unter anderem in Asien, Argentinien und Spanien gearbeitet und sich dort mit dem spanischen antifaschistischen Dichter Federico García Lorca angefreundet. Als dieser nach dem Putsch der Franco-Faschisten ermordet wurde, zog Neruda daraus die Konsequenz, sich aktiv gegen die Reaktion zu engagieren. 1945 schloss er sich der Kommunistischen Partei Chiles an, für die er in den Senat gewählt wurde. Doch schon ab 1946 musste Neruda angesichts der Verfolgungen zunächst in den Untergrund und dann bis 1952 ins Exil gehen. 1969 nominierte die Kommunistische Partei Neruda als ihren Kandidaten für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. Neruda verzichtete jedoch zugunsten von Salvador Allende, der für das Bündnis Unidad Popular ins Rennen ging und 1970 gewählt wurde. Neruda wurde von Allende zum Botschafter in Frankreich ernannt. 1971 wurde er mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.
Seine Beisetzung am 25. September 1973, zwei Tage nach seinem Tod, wurde die erste große Protestdemonstration gegen den Putsch. Während der Leichnam des Dichters, abgeschirmt von bewaffneten Soldaten, zu Grabe getragen wurde, skandierten tausende Menschen „Camarada Pablo Neruda – Presente!“ Hochrufe wurden auch auf den Präsidenten Salvador Allende und den Sänger Victor Jara ausgebracht, die ebenfalls ihr Leben verloren hatten. Am Grab Nerudas wurde schließlich die Internationale gesungen.