In Belarus halten die Proteste gegen Präsident Lukaschenko an

Bunte Revolution?

Nach der Wiederwahl von Präsident Alexander Lukaschenko kommt Belarus nicht zur Ruhe. Sowohl Gegner als auch Befürworter von Lukaschenko gehen auf die Straße, gegen die Demonstrationen von Lukaschenko-Gegnern ging die Polizei zum Teil mit erheblicher Gewalt vor. Nach Medienangaben gab es Tote und Verletzte sowie zahlreiche Verhaftungen. Auch wird in einer Reihe von Betrieben gestreikt. Laut der Behörden in Minsk waren bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe von UZ noch 122 Menschen im Zusammenhang mit den Protesten inhaftiert.

Nach Angaben der belorussischen Wahlkommission hatte Lukaschenko die Wahl, die am 9. August endete, mit 80 Prozent der Stimmen gewonnen. Auf die Spitzenkandidatin der Opposition, Swetlana Tichanowskaja, entfielen 9,9 Prozent, die restlichen 10 Prozent verteilen sich auf weitere Kandidaten. Die EU beeilte sich, das Wahlergebnis als irregulär hinzustellen und mit Sanktionen zu drohen, die Russische Föderation und die Volksrepublik China hingegen erkennen die Wahl an. Am Montag dieser Woche hat Lukaschenko unter dem Druck der Demonstrationen eine neue Verfassung ins Spiel gebracht, dazu müsse allerdings ein Referendum abgehalten werden. Erst mit einer neuen Verfassung könne es neue Abstimmung über Präsidentschaft und Parlament geben.

Tichanowskaja erklärte am Montag dieser Woche aus Litauen, wo sie sich inzwischen aufhält, sie sei bereit, als „nationale Anführerin“ zu handeln.

Der Gedanke an eine neue „bunte Revolution“ liegt bei den Geschehnissen nah. Zu sehr ähneln die Proteste und die Reaktionen von Bundes­regierung und EU denen des Euromaidan in der Ukraine 2013. Allein ein Blick auf die Fahnen der Demonstranten reicht. Weiß-Rot-Weiß war von 1943 bis 1945 die Fahne des Weißruthenischen Zentralrats, der im Dezember 1943 von der SS gegründet wurde, um als Sprachrohr für deutsche Propaganda und zur Mobilisierung belorussischer Kriegsfreiwilliger zu dienen. Nach dem Ende der Sowjetunion wurde sie für kurze Zeit Staatsflagge – bis ein Referendum sie 1995 wieder abschaffte und durch eine rot-weiß-grüne ersetzte.

Und um herauszufinden, woher das erhöhte Interesse an der kleinen ehemaligen Sowjetrepublik rührt, langt ein Blick auf die Landkarte. Zwischen dem NATO-Partner und EU-Mitglied Polen, in dem momentan 4.500 US-Soldaten stationiert sind (Aufstockung vorgesehen) und der Russischen Föderation liegt eben nur noch Belarus. Zur kompletten Einkreisung Russlands fehlt dann nur noch Moldawien, und auch dort hat es schon gemeinsame Übungen mit dem US-Militär gegeben.

Wohin die Reise nach Willen von Opposition, EU und deutscher Regierung innenpolitisch in Belarus gehen soll, zeigt ein Blick in das Wahlprogramm und von „unabhängigen Experten“ erarbeitete „Vorschläge“ Tichanowskajas. Hatte Belarus sich noch viele der Errungenschaften der Sowjetunion wie staatseigene Betriebe und keinerlei Privatisierung im Bildungs- und Gesundheitssektor erhalten, soll damit nun endlich Schluss sein.

So sehen die „Vorschläge“, unter anderem die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Aufgabe der Preisregulierung und eine Steueramnestie vor. Zur Anlockung ausländischer Investoren sind groß angelegte Privatisierungen geplant, unter anderem die Entwicklung eines vollwertigen Marktes an Grund und Boden, eine Liberalisierung im Finanzwesen und die Annahme von Marktnormen und Standards der EU. Außerdem plant die Opposition die „Restrukturierung, Modernisierung, teilweise oder vollständige Privatisierung großer und mittlerer staatlicher Unternehmen“, unter anderem durch die „Optimierung der Zahl alter Arbeitsplätze“. Hierzu sollen „ausländische Partner“ herangezogen werden. Im Gesundheitswesen will die Opposition Krankenhausbetten und Ärztestellen abbauen und die Liste der vom Staat bezahlten Behandlungen zusammenkürzen. Auch für die Wohnungswirtschaft sieht die Opposition Privatisierungen vor. Die EU wird sich freuen. Und die Demonstranten werden sich umgucken, wenn ihre Forderungen nach einer Oppositionsregierung erfüllt werden.

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"Bunte Revolution?", UZ vom 21. August 2020



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