Die global registrierte Anzahl der aktiven Smartphones übersteigt schon seit 2014 die der lebenden Menschen auf der Welt. Eine weitverbreitete Ideologie dazu behauptet, man lebe in einer Kommunikationsgesellschaft. Als das Maß des Sozialen gilt jetzt „Konnektivität“, also der Grad der Vernetztheit der Individuen. In einem hochvernetzten Land namens USA klagt derweil ein Fünftel der erwachsenen Bevölkerung über Einsamkeit und im Jahr 2019 erregte eine Studie Aufsehen, die sich Beiträge in den Sozialen Medien angeschaut hat, in denen Leute, die im US-Bundesstaat Pennsylvania leben, so häufig von Verlorenheit und Isolation berichtet haben, dass in den Medien aus Anlass jener Untersuchung von einer „mental health crisis“ die Rede war, einer Krise der geistigen Gesundheit.
Die gegenwärtige klinische Seelenkunde geht unter dem Eindruck neuer Datenverarbeitungstechnik davon aus, dass man bei Beobachtung des Sprachverhaltens eines Menschen nur zwischen vier- und fünfhundert Wörtern aus seiner Rede- oder Schreibpraxis kennen muss, um eine Art Charaktergrundlinie bestimmen zu können, die durch innere und äußere Faktoren verändert werden kann, so dass sich einerseits Hochstimmung und Glücksgefühle, andererseits aber auch Beeinträchtigungen der psychischen Funktions-, Arbeits-, Liebes- und Lebensfähigkeit diagnostizieren lassen.
Gemeinsam einsam
Wenn Personen, denen Werkzeuge des Austauschs in einem Ausmaß zur Verfügung stehen, das sich keine frühere Gesellschaft hätte ausmalen können, dennoch Entfremdungserfahrungen machen und das äußern, dann müsste die Sozialwissenschaft eigentlich hellhörig werden und Alarm schlagen. Zugleich vernetzt und isoliert?
Das bürgerliche Wissen von dergleichen, das an Universitäten verwaltet und gewartet wird, stammt größtenteils aus dem 20. Jahrhundert. Es macht sich seinen Reim auf Gesellschaftliches (von der Wirtschaft bis zu den Künsten) manchmal auf recht hohem Abstraktionsniveau, aber dieses Niveau ist gar nicht seines. Die entsprechenden Lehren wurden und werden großenteils vielmehr entwickelt, um Alternativen zu einem im 20. Jahrhundert in einer nichtbürgerlichen Gesellschaft gepflegten Konkurrenzwissen anzubieten, welches das Niveau vorgab. Ich meine damit den Marxismus-Leninismus, dessen Abwehr jede bürgerliche Theorie nach spätestens 1920 mindestens mitbesorgen musste, von anderem Nutzen abgesehen. Fast alle derartigen Theorien warfen sich auf irgendetwas, das mit Kommunikation zu tun hat. Selbst wo es zwischen den Schulen Streit gab, war man sich darin einig, dass das Reden, das Schreiben, das Behaupten oder das Bestreiten die Hauptsachen am Sozialen seien. Als zum Beispiel vor rund einem halben Jahrhundert in der akademischen Sphäre der BRD die Anhängerschaft des Professors Jürgen Habermas, der die soziale Welt vom „kommunikativen Handeln“ aus kapieren wollte, auf die Gläubigen der Gemeinde des Professors Niklas Luhmann einschlugen, weil dieser in den Lehren des Gegners Habermas sozialdemokratische Idealisierungen witterte (ein höchstes Gut war für Habermas die „herrschaftsfreie“ Unterredung und allerlei Fairness-Krempel) und selbst lieber nüchtern-technisch die Gesellschaft als selbsttätige Wechselwirkung von Systemen beschrieb, war die Differenz der beiden eher eine der Artikulationsintelligenz als eine im Kern. Luhmann lehrte, das Gemeinwesen treibe „Selbstreproduktion durch Kommunikation“. Der Unterschied zwischen Habermas und Luhmann schrumpft schnell, wenn man sie nach den produktiven und distributiven Verhältnissen fragt, die da herrschen, wo die von ihnen untersuchten Kommunikationssachverhalte zu finden sind.
In seinem wunderbaren Brief an Franz Mehring vom 14. Juli 1893, der die an Marx orientierte klassische Ideologietheorie zusammenfasst, erklärt Friedrich Engels, dass und wieso es Gelehrte gibt, die meinen, sie hätten in jedem Gebiet (Luhmann sagt: in jedem Subsystem, also im Recht, in der Kunst, in der Wissenschaft und so weiter) irgendeinen „Stoff“ vorliegen, der sich „selbständig aus dem Denken früherer Generationen gebildet und im Gehirn dieser einander folgenden Generationen eine selbständige, eigne Entwicklungsreihe durchgemacht hat“. Die Verbesserung, die Luhmann und Habermas den älteren Ideologien, auf die Engels es hier abgesehen hat, allenfalls haben angedeihen lassen, ist die Ersetzung von Gedanken im Hirn, die sich ohne Telepathie zunächst mal schwer nachweisen lassen, durch deren Spuren in Texten, Bild- oder Tonaufzeichnungen, eben Kommunikation, die sich beobachten und speichern und diskutieren lässt.
Um in der von der Bourgeoisie erlaubten Debatte über Soziales zu reüssieren, mochte man im 20. Jahrhundert statt von „Kommunikation“ etwa auch von „Semiotik“ reden, also von Zeichengebrauch, das ergab dann unter anderem den französischen Strukturalismus, oder man sagte „Diskurs“, das Wort blühte vor allem auf dem Mist des Poststrukturalisten Michel Foucault, oder man sagte scheinkonkret „Text“ wie Foucaults Kollege und zeitweiliger Kontrahent Jacques Derrida, oder man redete von „Simulation“, wie der Clown Jean Baudrillard, womit man schon fast in der Computerwelt der Gegenwart angekommen war; und immer so weiter.
Früchte des Denkens
Alle diese Irrlehren sind nicht „idealistisch“ in dem groben Sinn, dass sie sich etwa weigerten, die Welt der Körper, der auf sie wirkenden Kräfte und Felder und so weiter anzuerkennen. Sie sind idealistisch, aber nicht doof. Sie sind idealistisch in dem Sinn, in dem Marx und Engels das Wort als Etikett gewisser falscher Auffassungen der menschlichen Praxis verwenden. Luhmann zum Beispiel behauptet ausdrücklich gerade nicht, „dass Kommunikation ohne Bewusstsein, ohne durchblutete Hirne, ohne Leben, ohne gemäßigtes Klima möglich wäre“. Er gibt also Korrelationen zwischen Kommunikation und all diesen Angelegenheiten, die er insgesamt die „Umwelt“ der Kommunikation nennt, bereitwillig zu. Aber so gerne er sie zugibt, so wenig lässt er sich auf Kausalitätsfragen ein, oder wie Engels bei seinen Feinden, den bürgerlichen Ideologen, schon klug diagnostiziert: Sie räumen immer wieder ein, dass „äußere Tatsachen, die dem eigenen oder andern Gebieten angehören, mitbestimmend“ auf die Entwicklungen der selbsttätigen Gedanken oder Kommunikationen eingewirkt haben, die sie für die Hauptsachen halten, aber „diese Tatsachen sind nach der stillschweigenden Voraussetzung ja selbst wieder bloße Früchte eines Denkprozesses“, soweit sie sozial sind, also bei Luhmann oder Habermas nur relevant, wenn sie irgendwann in die Kommunikation hineingeraten, die sich damit für diese Denker exakt so verhält wie „das Denken“ bei den klassischen idealistischen Philosophen, das, so spottet Engels treffend, „selbst die härtesten Tatsachen anscheinend glücklich verdaut hat“.
Zu diesen Tatsachen gehört nicht zuletzt der keineswegs immer direkt kommunizierte Grund dafür, dass umfassende Vernetzung mit Einsamkeit korreliert sein kann. Schuld daran ist etwas, das Marx und Engels schon in ihrem oft missverstandenen Werk „Die deutsche Ideologie“ klar benannt haben, die Realität der Produktionsverhältnisse nämlich, in Gestalt der vom Privateigentum an Produktionsmitteln erpressten falschen Arbeitsteilung und damit der Trennung der meisten Menschen von sehr vielen ihrer potenziell gesellschafts- und geschichtsbildenden Potenzen. Was da vorliegt, ist insgesamt die „Subsumtion des Individuums“, wie Marx und Engels schreiben, „unter eine bestimmte ihm aufgezwungene Tätigkeit“, die nicht nur, wie sie richtig feststellen, beispielsweise „den Einen zum bornierten Stadttier, den Andern zum bornierten Landtier macht“. Diese alten Stadt-Land-Unterschiede werden vielmehr, genauso isolationsförderlich, genauso mit Spaltungsformen für Angehörige nichtbesitzender Klassen, heute auf höherer Organisationsstufe reproduziert, etwa als gesellschaftlicher Riss zwischen den eher im Home-Office Versklavten einerseits und den im modularen „Team“ in der Fabrik Ausgebeuteten andererseits.
Therapie gegen Entfremdung
Die Lösung, die in der bürgerlichen Welt für das sich daraus ergebende Menschenverschleißproblem angeboten wird, ist individuelle oder gruppenweise Psychotherapie als Ware.
Ein Zeitgeschichtler und Antikommunist namens Andreas Petersen, der 2019 die Welt schon mit seiner Fleißarbeit „Die Moskauer. Wie das Stalintrauma die DDR prägte“ zu beeindrucken suchte, legt nun im März 2024 per Ankündigung des Verlages Klett-Cotta mit „Der Osten und das Unbewusste. Wie Freud im Kollektiv verschwand“ ein Buch nach, das laut Werbung davon handelt, „wie der Osten die Psychoanalyse verbannte“, wobei „der Osten“ die Sowjetunion und, erweitert, wohl auch die sozialistische Staatenwelt sein soll. Weil der Westen für die von ihm Zerrütteten keinen schöneren Trost hat als Gespräche gegen Geld, wird dem Sozialismus vorgehalten, dieser enthalte solchen Trost seinen Leuten vor. Die Wahrheit ist, dass Sigmund Freud als später, aber klassischer bürgerlicher Aufklärer viel Achtung dafür verdient, dass er eine Bürgerwelt, die das nicht gern hörte, mit Nachdruck darauf hinwies, dass Unterdrückung die Seele krank macht, und seine Beispiele mutig aus der bürgerlichen Welt, ihrer Familie, ihrer Erziehung, ihrem Staat nahm. Viele seiner Einzelfunde hätten es verdient, dem Vergessen entrissen zu werden, das spätere Psychomoden über sie gebreitet haben.
Aber nicht wenig an seiner Methode war Stümperei (was bei der „freien Assoziation“ oder der „Übertragung“ genau passiert, lässt sich grundsätzlich nicht unter kontrollierten Bedingungen reproduzieren), und vieles an seiner Theorie war Pfusch (der biologisch unhaltbare „Todestrieb“, die Spekulationen über die menschliche Urgeschichte und manches mehr). Gerade seine Schwächen aber haben ihn im Imperialismus für eine bestimmte Sorte des „unglücklichen Bewusstseins“ (Hegel) attraktiv gemacht, für Intellektuelle, die ein „Unbehagen an der Kultur“ (Freud), nämlich am Imperialismus, empfinden, aber diesen Imperialismus nicht in den parteinehmenden Parametern des Marxismus-Leninismus angreifen wollen, sondern lieber Gründe für ihre Gesellschaftskritik angeben, die niemand testen kann, weil besagte Kritik dann die warme Farbe des Glaubens und Fühlens annimmt, bei der sie sich trösten. Hierher gehören viele positive Bezugnahmen auf die Psychoanalyse, von Adorno bis zu den „Antideutschen“.
Destruktivkräfte
Heute jedoch wird Technik verfügbar, die Kausalitätsbehauptungen über Seelisches, wie Freud sie aufstellte, präzisieren, bestätigen oder widerlegen kann, etwa als Kombination von nichtinvasiver Gehirnbeobachtung (zum Beispiel per fMRI, also functional Magnetic Resonance Imaging) mit Selbstzeugnissen des denkenden Individuums. So ermittelt man Muster, die dieser oder jener Hirntätigkeit entsprechen und dann mithilfe von Künstlicher Intelligenz Diagnosen und Prognosen gestatten. Man spricht hier von „Neurotechnologie“. Sie ist die nächste Front einer Entwicklung, in der Produktivkräfte immer schneller in Destruktivkräfte umschlagen, weil der Monopolismus nur noch einen einzigen Gebrauchswert der Produktion kennt: Zuwachs und Erhalt seiner Macht. Wenn Forschung einen Fahrradhelm erfindet, der den mentalen Zustand des radfahrenden Menschen misst, werden (das Beispiel ist authentisch) die so erhobenen Daten dann sogleich an Konzerne verkauft, die daraus Stadtpläne machen, auf denen man sieht, wo ein Erfrischungsladen profitabel hingehört. Schon ist von einer „post-choice society“ die Rede, einer Welt, in der man die seelische Last des Sich-Entscheidens abwerfen kann, weil die KI schon weiß, welchen Zug man nehmen sollte. Gegen solche Abgefeimtheiten wird die Parole „Mehr Planwirtschaft!“ wenig ausrichten, da muss schon auch die Machtfrage auf den Plan und überhaupt das ganze Analysen- und Programmarsenal des Marxismus-Leninismus.
EEG-Stirnbänder können unterdessen leider schon den Bossen verraten, ob die Geknechteten am Bildschirm noch bei der Sache sind, und das mitten in einer gigantischen Dequalifizierungsoffensive: Man sagt Leuten, die wahre kognitive Arbeit mache jetzt ein Automat, der Mensch dürfe nur noch nachbessern, kontrollieren, „bedarfsgerecht“ einrichten. Man redet ihnen ein, es gäbe keine Facharbeit mehr, die Forderungen stellen darf, nur noch Hilfsarbeit. Dabei wäre niemand auf die Idee gekommen, selbstständigen Müllern in frühkapitalistischer Zeit die Preise zu verderben, weil doch der Wind, das Wasser und die Räderwerke die Arbeit machen und der Mensch nur hilft. An diesem Vergleich sieht man, dass es um die ökonomische Form geht, nicht um die technischen Ausreden der herrschenden Klasse für ihre Ausbeuterei.
„Den Teufel spürt das Völkchen nie“, sagt Goethe richtig über dumme Leute, „und wenn er sie beim Kragen hätte.“ Schwachköpfe, die noch von den „Chancen digitaler Transformation für ein besseres Arbeitsleben“ faseln, hat der Teufel längst nicht mehr nur beim Kragen. Er ist vergnügt damit befasst, sie zu vergewaltigen, während er sie auffrisst.