Svealena Kutschke: Stadt aus Rauch, Eichborn 2017, 672 Seiten, 24 Euro (eBook: 17,99 Euro)
DDR-Sozialisierte und die, die es (auch der Literatur wegen) gerne gewesen wären, haben den Vorteil, dass sie Bücher aus Gewohnheit öfter hinten aufschlagen, um einen Blick auf die Inhaltsangabe zu werfen. Zumindest bei Sachbüchern. Wenn es um die schöne Literatur geht, vielleicht bei Sammelbänden oder dicken Romanen. „Stadt aus Rauch“, der dritte von Svealena Kutsche, ist ein dicker Roman.
Zwar gibt es keine Inhaltsangabe auf dem hinteren Vorsatzpapier, aber dafür einen hilfreichen Stammbaum: Vier Generationen allesamt tiefer Figuren, mit Kontext gefütterte Namen. Die Karte der Stadt Lübeck von 1850 am Anfang ist da eher Schmuck. Aber sie zeigt zweierlei: Den Handlungsbeginn nach der gescheiterten Märzrevolution und dem Beginn der Einigungskriege auf der einen Seite. Und die unangenehme Tatsache, dass die Geschichte derer mit oder ohne Nachnamen Hinrichs, Petersens und Mertens schon von Teufelshand geschrieben wurde, als die Siedlung Luibice um 800 entstand, obwohl Luibice doch slawisch für „lieblich“ ist: „… die Hölle war nicht jenseitig, die Hölle war hier und jetzt, die Hölle war Lübeck.“
Nur drei längere Episoden führen weg aus der Hansestadt, wo der Teufel in Person blauäugig, frankophon und nikotinabhängig haust und wo das Haus in der Gröpelgrube, das mit dem „sargschmalen Gang“, das unruhige Auge im noch wütenderen Nordsturm bildet. Zum einen, wenn Johann Christoph Petersenn seinen österreichischen Offizierskollegen besucht, sich verliebt in dessen Frau und letztlich die 37 Jahre jüngere Tochter Josefa heiratet. Die stirbt bei der Geburt des zweiten Sohnes Christoph.
Christoph entgeht dem Schlachten des Ersten Weltkriegs durch den Aufstand der Kieler Matrosen, mit denen er nach Berlin zieht und dort Revolution macht. Doch die Räterepublik teilt das Schicksal der Kinder, die Christophs Mutter Josefa zwischen ihm und seinem älteren Bruder Alfons früh verliert oder tot gebiert. Stattdessen führt Christoph, bar jeden Talents, in Berlin das Bohèmeleben eines Malers. Geläutert kehrt er nach Lübeck zurück und tut das, was man eben tut, wenn man zu oft von der Kunstakademie abgewiesen wird: er wird Faschist.
Die letzte Episode außerhalb Lübecks – denn die DDR mit ihren Inhaltsangaben am Buchende betritt man hier nicht, das hätte der blauäugige Teufel wohl nicht zugelassen – zeigt Jessie Mertens, wo sie mit dem Punk und wiedergefundenen Sandkastenfreund Bjarne zusieht, wie die ZAst in Rostock-Lichtenhagen vom rassistischen Mob angezündet wird.
An Kutschkes vom Feuilleton bisher sträflich missachteten Roman ist weniger die Fatalität das Manko. Der Teil der deutschen Geschichte, wie er hier aufgegriffen wird, ist dafür mehr als genug Steilvorlage und da die DDR auszuklammern ist nur konsequent. Es stört das Gleichmacherische, das damit einhergeht, wenn zwischen antisemitischer Zusammenrottung an einem Badestrand im Kaiserreich und der Reichskristallnacht die Novemberrevolution eingefasst wird in ein Gefüge, das die Masse in befreiender Aktion mit Masse in blinder und brutaler Reaktion pauschalisiert.
Viel scheint in „Stadt aus Rauch“ schwarze Romantik und entpuppt sich doch als magischer Realismus: Eine schwangere Prostituierte geht lebensmüde in die Trave und ertrinkt („[…] Magdalena fürchtete das Leben, besonders das ungeborene, mehr als den Tod“), doch das Baby kommt zur Welt, „[s]ehr hungrig zwar, unterkühlt und von Parasiten befallen, aber zweifellos am Leben.“ Ein Offizier mit Kopfschuss beginnt zum lebenden Kriegerdenkmal zu versteinern und kultiviert Muscheln an den Wangen. Ein von Patriarchen verhinderter Ballerino wird schattenlos geboren, lässt ihn aber wachsen und während er, zum Nazischlemihl geworden, in der Gröpelgrube die Frau durch Vergewaltigung schwängert, geht ihm der Schatten wieder ab.
Man wünscht sich nur, auch die braune Romantik der deutschen Faschisten würde hier mehr durch das Reale entzaubert und nicht deren Zerrbegriffe von Sozialismus, von Arbeiterpartei und von Volk so billig entgegengenommen.
Kutschke, die 2009 mit „Etwas Kleines gut versiegeln“ (Wallstein) debütierte, wagt den Lübecker Roman über Generationen einer Familie. Wenn dann intertextuelle Anklänge an Brecht („Resolution der Kommunarden“), „A Clockwork Orange“ von Anthony Burgess und Lyrics der Deutschpunkband „Zaunpfahl“ fallen, dürfen die „Buddenbrooks“ von Stadtsohn Thomas Mann nicht fehlen. Dann wird der in den Siebzigern geborenen Jessie Mertens eben nicht mehr die „Lübecker Nachrichten“ beim Wachstumscheck mit Bleistift am Türrahmen auf den Kopf gelegt, sondern die „Buddenbrooks“-Ausgabe, und die Tochter wird vier Zentimeter größer. Vater Jürgen darauf: „Und nu is mal gut.“
Gut sein lässt es Kutschke nicht. Die Liebe, zwischen Krankenpflegerin und Bestatter, zwischen Gestapomann und Morphiumjunkie, zwischen anschaffendem Allesdrogenfresser Schwani und Hippie Lasse ist hier wie ein Gefängnis, bei dem die Tore immer offen stehen. Hier ist Liebe Passion. Die Liebenden sind verleitet, sich aus ihr zu lösen oder sich ihr zu ergeben – beides tut weh. Gutmensch Lasse und seine Liebe zum monomanen Egoisten Schwani: „Als Kind hatte er einmal einen Glasbläser bei der Arbeit beobachtet. Er hatte das weiche Glas, das sich langsam zu einer Blase formte, unbedingt berühren wollen. Es bedeutete ihm nichts, dass es heiß war, etwas so Schönes konnte einen gar nicht verletzen. Lasse schaute in das stille Gesicht seines Geliebten, etwas so Schönes konnte einen gar nicht verletzen.“
Svealena Kutschke hat keine deutsche Familiensaga geschrieben. In „Stadt aus Rauch“ geht es um „sargschmale“ Beziehungskisten, melancholisch bis ins Mark und großartig in Sprache gesetzt. Als wäre beim Schreiben in Kutschke der Teufel gefahren.