1913 lebten auf dem riesigen Territorium des russischen Zarenreiches 159,2 Millionen Menschen unterschiedlicher Nationalität und ethnischer Herkunft, mehr als die Hälfte von ihnen Frauen und Mädchen. Die Mehrheit dieser Frauen und Mädchen – ob auf dem Lande oder in der Stadt – lebte in großer Armut, hatte keinerlei politischen Rechte. Sie waren von Bildung weitgehend ausgeschlossen, meist konnten sie nicht lesen und schreiben. Vor der Oktoberrevolution arbeitete zudem nur eine von vier Frauen außerhalb des eigenen oder eines fremden Haushaltes, obgleich die Entwicklung des Kapitalismus im Lande auch zur Entstehung von mehr und mehr Fabriken führte und die Zahl der Arbeiterinnen in ihnen bis 1917 auf über 40 Prozent anstieg. Jedoch erst die Oktoberrevolution und mit ihr die Sowjetmacht eröffneten allen Frauen und Mädchen den Weg zu Gleichberechtigung und Gleichstellung. In wenigen Jahrzehnten veränderte sich – aber nicht nur im Hinblick auf Bildung und Erwerbstätigkeit und mit Rückschritten – die Lage der Frauen im Lande fundamental.
Es waren Frauen, Textilarbeiterinnen, die mit den Februarstreiks 1917 in Petrograd, mit ihren Forderungen nach Brot und Frieden, de facto das Startsignal für die Februarrevolution und den Sturz des zaristischen Systems gaben. Doch die Hoffnung auf Frieden wurde durch die neu gebildete Provisorische Regierung nicht erfüllt. Mit dem Frauenwahlrecht wurde jedoch zumindest eine der Forderungen revolutionärer Frauen und der Frauenbewegung erfüllt: Im Mai 1917 wurde ein Gesetz beschlossen, das russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern über 20 das Recht gab, die Konstituierende Versammlung zu wählen. Dieser gehörten dann auch Frauen an. Nach der Oktoberrevolution wurde das Frauenwahlrecht in die Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik vom 10. Juli 1918 aufgenommen.
Zu den ersten Schritten der Sowjetmacht 1917/18 gehörten Dekrete, die weitere fundamentale Rechte von Frauen und die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Gesellschaft festgeschrieben. Zu diesen Dekreten gehörten das „Über die Bildung einer Arbeiter-und-Bauern-Regierung“, welches die Gleichstellung von Mann und Frau legalisierte, das Dekret „Am Achtstundentag“, mit dem Frauenarbeit in der Nacht verboten wurde, das „Über die Regeln für die Zulassung zu Hochschulen“, mit dem Frauen Zugang zu höherer Bildung erhielten, das Lohndekret, das gleiches Entgelt für Männer und Frauen festschrieb, und das Dekret „Über die standesamtliche Eheschließung, über Kinder und die Einführung von Staatsakten“. Mit Letzterem wurde die religiöse Registrierung von Ehen abgeschafft. Es wurden die Rechte von Frauen in der Familie durch die Gleichstellung von Frauen und Männern gestärkt. Doch Traditionen und Verhaltensweisen kann man nicht allein durch Gesetzgebungen verändern. Veränderungen brauchen offenbar Zeit, viel Zeit. Frauen in der Sowjetunion arbeiteten nicht nur im Beruf sehr hart, die Mehrheit von ihnen erlebte zudem – auch nach dem Großen Vaterländischen Krieg, in dem Frauen nicht nur in Betrieben die Versorgung der Front und des Hinterlandes sicherten, sondern viele selbst kämpften, und der Zeit des Wiederaufbaus – neben der Berufstätigkeit weiter die massive Doppelbelastung durch Haushalt und Kindererziehung.
Übrigens: Sowjetrussland war 1920 das erste Land in der Welt, das Abtreibungen durch medizinische Intervention vollständig legalisierte. Jede Frau konnte diesen Eingriff kostenlos in einer speziellen medizinischen Einrichtung vornehmen lassen. Anfang der 1930er Jahre wurden diese Rechte aber wieder eingeschränkt (nach 1955 wieder ausgeweitet): Die Geburtenrate war deutlich gesunken.
Von Anfang an wurden in Sowjetrussland und dann der Sowjetunion Alphabetisierungskurse gefördert, zudem Frauenkurse an Fabriken und Berufsschulen zur fachspezifischen Ausbildung von Frauen eingerichtet, Frauen wurde Zugang zu allen Bildungseinrichtungen gewährt. Gewerkschaften, Räte, Jugend- und Genossenschaftsorganisationen, aber auch die Partei unterstützten die Durchsetzung der Frauenrechte in der Stadt und auf dem Land.
Konnten 1926 nur 42,7 Prozent der Frauen in der Russischen Sowjetrepublik lesen und schreiben, waren es 1939 bereits 83,4 Prozent. Ende der 1920er Jahre stellten Frauen die Hälfte der Medizinstudenten, Ende der 1930er Jahre die Hälfte der Studierenden an Technischen Hoch- und Fachschulen, Mitte der 1960er Jahre die Hälfte der Mathematik Studierenden und die meisten im Fach Biologie.
All diese unterschiedlichen Maßnahmen konnten in den 1920er, Anfang der 1930er Jahre schon im europäischen Teil der Union Sozialistischer Sowjetrepubliken nicht ohne Widerstand durchgesetzt werden. In den anderen neu entstandenen Sowjetrepubliken, vor allem in Mittelasien, war die Situation noch weitaus komplizierter. Vor allem in Tadschikistan und Turkmenien stießen Maßnahmen zur Veränderung der Lage der Frauen auf teilweise massiven Widerstand: Dort, wo Frauen beispielsweise ihren Gesichtsschleier ablegten, bezahlten sie das nicht selten mit ihrem Leben. Heute sind dies jene Länder der früheren Sowjetunion, in denen die Rechte der Frauen am meisten wieder eingeschränkt wurden.
Nina Hager