„Ich habe mal im DDR-Kabarett ‚Die Distel‘ eine Nummer gesehen, da saßen drei, vier Leute in Muschibububeleuchtung und würfelten und trugen die Zahlen in geheimnisvolle Listen ein; das war die Konsumgüterverteilung der Bezirke.“
Auf der einen Seite, sitzend, ein junger Mann, etwas hager, sehr schön, den Koffer noch neben sich, weil er gerade angereist ist. Auf der anderen Seite, auch sitzend, ein Midlife-Crisis-Mensch mit leichter Rechenschwäche, einen grauen, leicht verstaubten Anzug tragend, die Betonschuhe schon angelegt, ebenfalls wunderschön. Das ist der DDR. Sie unterhalten sich über Brötchen. Schernikau, denn so heißt der Schnurrbartträger, zitiert einen weitsichtigen Kommunisten, der einige Jahrzehnte vor jetzt, das heißt damals, schon erspähen konnte, was passiert:
„Es ist so, dass die Konsumgüter, die für die Deckung des Aufwands an Arbeitskraft im Produktionsprozess notwendig sind, bei uns als Waren erzeugt und realisiert werden, die der Wirkung des Wertgesetzes unterliegen. (…) Schlimm ist, dass unsere Wirtschaftler und Planer, mit wenigen Ausnahmen, die Wirkungen des Wertgesetzes schlecht kennen, sie nicht studieren und es nicht verstehen, sie in ihren Berechnungen zu berücksichtigen. Daraus erklärt sich denn auch das Durcheinander, das bei uns immer noch in der Frage der Preispolitik herrscht.“
Ja, sagt der Anzugträger, das wisse man auch, aber und überhaupt.
So entfalten sich dreizehn kleine Seiten Text, die eigentlich schon einen guten Teil dessen enthalten, was man über die Niederlage des Sozialismus in der DDR wissen sollte, aber eben auch vieles darüber, weshalb man diesen Staat mindestens honorieren, vielleicht auch lieben konnte in seiner Widersprüchlichkeit am Ende. Es ist eine Fast-Reportage darüber, was passiert, wenn man das Zitat nicht beachtet und warum eine schlecht eingerichtete sozialistische Ökonomie immer noch besser ist als die kapitalistische Anarchie, oder mit Peter Hacks‘ Worten: „Im DDR-Sozialismus gab es essbares Brot und essbare Brötchen, und die Theorie dazu gibt es bei Ulbricht. („Wir sollten nicht die Kinderkrankheiten des Imperialismus nachahmen.“) Ich möchte nicht die Schrippen von Herrn Kamps fressen.“
In der DDR gab es drei Arten von Besitz an Bäckereien: Kombinate, PGHen, das heißt Genossenschaften, und Kaufhallenbäckereien. Die Ersteren waren staatlich, die zweiten Produktionsgenossenschaften einzelner Bäckerinnen und Bäcker (kleinbürgerliche Produktion, der Chef arbeitet mit und so weiter), die dritten größenmäßig ein Zwischending und Teil des Kombinats. Die Kleinbürger werden ein wenig hofiert: „Herr Hammer bestreitet, mehr zu verdienen als ein normaler Bäcker. Natürlich glaube ich das nicht, und das sieht Herr Hammer auch. Listig sagt er: Man hat es nicht leicht.“ Es spielt aber, so Schernikau, keine Rolle. Jede und jeder an seinem Platz ist zufrieden, niemand will tauschen, alle wissen, dass es anders ginge, keine und keiner möchte die anarchistische Hölle des Kapitals, die meisten sehen gelassen in die Zukunft und sagen, was besser wird, das kommt schon, wenn wir beflissen weitermachen und besser werden.
Nur das Ding mit der Verteilung, mit der Preisgestaltung scheint zu nerven. Punkt Eins: Wo die Kaufhalle ist, kann man immer frische Brötchen haben. Da ist allerdings kein privater Bäcker, wo es andere Sachen gibt, wo man allerdings Ewigkeiten ansteht. Der Unterschied zum Kapitalismus ist: Es gab diese beiden Alternativen ja trotzdem, wo sie heute mehr und mehr verschwinden. Es gibt die Backwarenketten, da kann man schlecht schmeckende Brötchen haben, und es gibt die privaten Bäckereien, da kann man teurere, etwas besser schmeckende Brötchen haben, bis die Bäckerei spätestens in der nächsten Überproduktionskrise geschluckt wird. Bei beiden Formen der Brötchenproduktion im Kapitalismus sind die Leute mit Recht sehr unzufrieden: In der Kette Werkverträge, miese Arbeitszeiten, noch miesere Arbeitsbedingungen, Spaltung in Stamm- und andere Belegschaft. Im Privaten verschärfte Ausbeutung, damit die kleine Bäckerei überhaupt eine kleine Zeit zwischen den Ketten bestehen darf. Soviel zu Punkt Eins: Wenn man diese zwei Kontrapositionen „Brötchen im Sozialismus“ und „Pappe im Kapitalismus“ nicht vergisst, muss man die DDR mindestens honorieren, vielleicht auch lieben.
Punkt Zwei: Preisgestaltung. „Egal, wo ein Brötchen hergestellt wurde, der Verbraucher zahlt fünf Pfennig pro Schrippe. Natürlich ist dieser Preis ein Kunstwerk. Er ist in keiner Weise natürlich.“ Was gemeint ist: Der Preis ist immer so, weil er subventioniert wird. Das ist an sich schön und erfreulich, nur, so berichten auch die DDR-Bürgerinnen und -Bürger, er ist zu billig. Es war gut gemeint und schlecht umgesetzt, was ja nicht gegen die Subvention spricht. Nur: Ob die Schrippe nun 5, 10 oder 15 Pfennig kostet, macht für die DDR-BürgerInnen keinen Unterschied. Es ist so oder so ja günstig. Bei Preisen für 5 Pfennig wird Lebensmittelverschwendung begünstigt, denn die Brötchen werden einfach weggeworfen, wenn man doch noch an der privaten Bäckerei vorbeikommt und dort auch welche kriegt. Alle, so berichtet Schernikau, finden das falsch. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht nachlässig mit dem werden, was wir haben.“ Dahinter steckt ein anderes, zentraleres Problem der Ökonomie im Sozialismus ab den 1970ern: Der Fokus auf die Konsumgüterproduktion. Im Nachhinein kann man das einfach sagen, es hatte ja auch seine Gründe, nur ändert es nichts daran, dass das Geld dorthin geflossen ist, wo man damit wenig anfangen konnte, und nicht dorthin, wo man es gebraucht hätte, beispielsweise in der Schwerindustrie, bei der Produktion von Produktionsmitteln. Das ist die Tragik des Brötchens im Sozialismus und ändert doch nichts daran, dass Schernikau die DDR mindestens honorieren, tatsächlich lieben konnte.
Vor 30 Jahren starb einer der letzten Schriftsteller, die das konnten, die Revolution lieben, mit allen ihren Widersprüchlichkeiten, einer der letzten Schriftsteller, die am Brötchen erklären konnten, was in der DDR gut oder schief lief und warum ihre Niederlage trotzdem der herbste Schlag gegen die deutsche Arbeiterbewegung war. Einer, der fähig war, so realistisch zu schreiben, dass er nicht literarisch fotografieren musste und deshalb Kunst produzieren konnte. Ein Mensch, der so schön war wie der Staat, den er liebte.
Ronald M. Schernikau
„Der Weg der Brötchen in den Sozialismus“
in: Königin im Dreck – Texte zur Zeit
Verbrecher Verlag, 18 Euro
Erhältlich unter uzshop.de