Zerstörer dringt in russische Hoheitsgewässer ein

Britische Lunte am Pulverfass

Der Krieg rückt näher. Der Royal-Navy-Lenkwaffenzerstörer „HMS Defender“ drang am 23. Juni in der Nähe der Krim in die russische 12-Meilen-Hoheitszone entlang der Küste ein. Wie der an Bord befindliche „BBC“-Journalist Jonathan Beale bezeugte, handelte die „HMS ­Defender“ in voller Absicht. Beale machte auch Tonaufnahmen von den Reaktionen des russischen Militärs. Die russische Küstenwache hatte das Schiff gewarnt und feuerte danach Warnschüsse auf den Zerstörer. Etwa 20 russische Marineflieger versuchten den britischen Zerstörer von seiner Grenzprovokation abzubringen. Als das nicht half, verlegte ein Luft-Boden-Kampfflugzeug vom Typ Su-24M mit vier 250-Kilogramm-Splittersprengbomben den Kurs des Zerstörers. Kurz darauf verließ die „HMS Defender“ die russischen Gewässer. Die russische Seite machte klar, dass sie das britische Manöver als ernste Verletzung ihrer territorialen Integrität betrachtet und dass im Wiederholungsfalle die Bomben nicht vor das Schiff, sondern darauf fallen würden.

Die Frage lautet: Was macht ein britischer Zerstörer tausende Seemeilen von den Küsten Britanniens entfernt in russischen Küstengewässern? In der Nähe des legendären Hauptquartiers der russischen Schwarzmeerflotte, Sewastopol? Und was macht ein „BBC“-Korrespondent plus Kamerateam an Bord? Vielleicht ist Britannien ja tatsächlich bedroht, aber dann müsste die Royal Navy doch eher in den Firth of Forth einlaufen und den Regierungssitz von Nicola Sturgeon in Edinburgh ins Visier nehmen. Russland jedenfalls hat deutlich andere Sorgen als das mittlerweile reichlich ramponierte britische Königreich anzugreifen.

Natürlich sehen das die britischen Russlandfalken im Militär, in der Bourgeoisie und in den Medien völlig anders. Hier ist man geradezu besessen vom Kalten Krieg gegen die Sowjetunion, dem nach der Oktoberrevolution bereits ein heißer Interventionskrieg vorangegangen war. Ein gescheitertes „Abenteuer“, das dessen prominentester Promoter, Winston Churchill, 1945 – der Zweite Weltkrieg war noch nicht vorüber – mithilfe der faschistischen Wehrmacht gern wiederholt hätte. Das Projekt hieß „Operation Unthinkable“ (Unternehmen Undenkbar) und hätte Briten und US-Amerikaner an der Seite von zehn faschistischen Wehrmachtsdivisionen, gegen die sie gerade noch gekämpft hatten, gegen ihren sowjetischen Verbündeten in Stellung gebracht und damit den Dritten Weltkrieg ausgelöst. Seit der Oktoberrevolution sind die britische Oberschicht und ihre „freien Medien“ geradezu besessen von einem Feldzug gegen „Russland“.

Ganz gleich ob kalt oder heiß: Die Sowjetunion/Russland-Obsession hatte auch nach 1991, von wenigen Jelzin-Jahren abgesehen, bruchlos weiter Bestand. Die NATO-Ostexpansion; Kriege in Syrien, Libyen, im Kaukasus; Regime- Change-Operationen in der Ukraine und in Belarus; die Skripal- und die Nawalny-Affäre – keine Möglichkeit, sich mit Russland anzulegen und es in den Senkel zu stellen wurde ausgelassen. Für nicht wenige der ehrenwerten Damen und Herren ist der Versuch der US-Führung, zu einem entspannteren Verhältnis zu Moskau zu kommen, nahezu Verrat. Auch Frankreich und Deutschland wollten die Lage mit einem EU-Gipfel mit russischer Beteiligung entkrampfen. Vor allem die deutsche Exportindustrie ist an dem seit 2014 anhaltenden hysterischen Russland-Bashing wenig interessiert – hatte doch der Kurswechsel Bid­ens, so widersprüchlich und begrenzt er inhaltlich auch war und zeitlich auch sein dürfte, dennoch Chancen eröffnet, zu einem geschäftsmäßigeren Verhältnis zu den Russen zu kommen und hier wieder gute Geschäfte zu machen. Präsident Wladimir Putin war diesen Bemühungen mit einem ausgesprochen konstruktiven Namensartikel zum 80. Jahrestag des 22. Juni 1941 in der „Zeit“ entgegengekommen: „Wir sind offen für ein faires und kreatives Zusammenwirken. Dies unterstreicht auch unsere Anregung, einen gemeinsamen Kooperations- und Sicherheitsraum vom Atlantik bis hin zum Pazifik zu schaffen.“

Der britische Reporter an Bord des Zerstörers lässt keinen Zweifel daran, dass es sich bei der Aktion der „HMS Defender“ um einen geplanten Coup mit ebenso geplanter großer medialer Verstärkung handelte. Das kurzfristige Ziel der Übung dürfte daher die Torpedierung des EU-Gipfels am darauffolgenden Tag gewesen sein. Was auch gelang – der Vorstoß von Merkel und Macron ist in Brüssel geradezu spektakulär gescheitert. Das britische Militär ist allerdings mit seinen Zündeleien am ukrainischen Pulverfass nicht allein. Die NATO-Großkriegsübung „Defender Europe 21“ fand parallel im Baltikum und vor der Küste der Krim statt. Aktuell lässt US-Präsident Biden wieder Ziele in Syrien und Irak bombardieren. Auch die Bundeswehr hat zwei Eurofighter nach Rumänien verlegt, welche die NATO-Präsenz über dem Schwarzen Meer verstärken sollen. Auch Deutschland soll wieder einmal tausende Kilometer entfernt „vorausverteidigt“ werden.

Russland hat diesen verstärkten „westlichen“ Truppenaufmarsch vor seiner Haustür mit eigenen Verteidigungsanstrengungen beantwortet. Neben der Modernisierung der eigenen strategischen Abwehr wurden auch die russischen Luftstreitkräfte in Syrien deutlich verstärkt. Zusätzlich zur Stationierung von strategischen Überschallbombern vom Typ Tu-22M3 auf der Hmeimim Airbase sind dort nun auch hochpotente MiG-31K-Abfangjäger positioniert worden. Die MiG-Kampfflugzeuge sind die schnellsten der Welt und können mit der neuen Kinschal-Hyperschall-Rakete bewaffnet werden, die eine Reichweite von 2.000 Kilometern hat und eine Geschwindigkeit von Mach 10 erreicht. Die Stationierung dieser Kampfflugzeuge verändert das strategische Gleichgewicht im Mittelmeerraum und im Nahen Osten deutlich.

Die Frage, wer hinter dem Manöver der „HMS Defender“ steckt, ist nicht leicht zu beantworten. Falls es „nur“ die britischen Kriegstreiber sind, wäre die Situation vielleicht beherrschbar. Möglicherweise betreiben aber auch Kräfte aus dem US-militärisch-geheimdienstlich-industriellen Komplex wieder eine Art Neben-Außenpolitik – es wäre nicht das erste Mal. Abrüstung und Entspannung gelten diesen Kräften als extrem geschäftsschädigend. Das müsste dann allerdings alle Alarmglocken zum Läuten bringen.

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