Es macht Michel Barnier sichtlich Vergnügen, Salz in die Wunden der britischen Premierministerin Theresa May zu streuen. Der Verhandlungsführer der EU in Sachen Brexit reagierte auf die Forderung der britischen Regierung, dass die Zollunion zwischen Britannien und der Europäischen Union aufgekündigt werden soll, andererseits aber Grenzkontrollen zwischen dem in der EU verbleibenden Irland und dem zum „Vereinigten Königreich“ gehörenden Nordirland unbedingt vermieden werden sollen, mit dem Vorschlag, das nordirische Territorium zollmäßig und damit ökonomisch in der EU zu lassen, es also realökonomisch der Republik Irland zuzuschlagen. Frau May hat eine knappe Mehrheit im Unterhaus nur dank der Unionisten aus Nordirland, deren wichtigster, um nicht zu sagen einziger politischer Grundsatz in der politischen Union mit London besteht. Nordirland der EU und damit dem Erzfeind, der Republik Irland, zuzuschlagen hat für diese Partei satanischen Charakter. Barniers Vorschlag bedrohe die Einheit des Landes, sagte deshalb Frau May empört.
Ihre mit einer gewissen Spannung erwartete Grundsatzrede zur Brexit-Frage enttäuschte allerdings. Britannien soll aus dem Binnenmarkt und der Zollunion der EU aussteigen, schlug sie vor. Die Trennung werde nicht ganz schmerzfrei bleiben. Aber die Beziehungen zur EU sollten tief und freundschaftlich bleiben. Barnier konnte nach dieser Rede glaubhaft machen, dass er nun auch nicht besser wisse als zuvor, welche Verhandlungsposition die Regierung in London eigentlich einnehme. Es ist für alle und jeden erkennbar: die herrschende Klasse in Britannien ist sich über den einzuschlagenden Kurs uneins. Immerhin sagte Frau May, sie wolle, dass Britannien die „Zollunion“ der EU verlasse. In der konservativen Partei scheint das einen vagen Kompromiss darzustellen. Der für den überdimensionierten Finanzsektor des Landes entscheidende Punkt ist dabei bisher noch nicht Verhandlungsgegenstand. Es geht dabei um die Frage, ob die in London angesiedelten Banken aus aller Welt auch nach dem Brexit ihre Geldgeschäfte in allen Ländern der EU betreiben können. Über diese Frage sind sich die Großkonzerne in der Rest-EU ebenfalls uneinig. Zur Umgehung nationaler oder auch EU-weiter Regulierung und Besteuerung hat sich der Finanzplatz London für viele als vorteilhaft erwiesen. Andererseits klagen zum Beispiel Manager deutscher Unternehmen darüber, dass sich unter den führenden Finanzhäusern der Welt nach dem Niedergang der Deutschen Bank keine deutschen befinden. Das könnte anders werden, wenn große Banken sich gezwungen sehen, ihren wichtigsten europäischen Stützpunkt in Frankfurt anzusiedeln.
Am 26. Februar griff Oppositionsführer Jeremy Corbyn mit einer Grundsatzrede im mittelenglischen Coventry in die Brexit-Frage ein. Seine Aussage, er verfolge „eine Zollunion“ mit der EU, wurde dabei als Gegensatz zur Haltung der Premierministerin interpretiert. Jedoch spielt der unbestimmte Artikel in seiner Aussage die Hauptrolle. Corbyn machte nämlich deutlich, dass die real existierende Zollunion der EU für ihn, die Linke in Britannien und die Linke in der Labour Party nicht akzeptabel ist. Diese Zollunion der EU umfasst nämlich auch die Bestimmungen des Lissabon-Vertrages, sie enthält die Freiheit des Kapitalverkehrs und die Regulierungshoheit der Brüsseler Institutionen über den gemeinsamen Binnenmarkt. Die Zölle sind, wie Corbyn richtig bemerkt, nicht das Problem. Im Interesse eines gut laufenden Warenhandels zwischen der Insel und dem übrigen Europa sei eine Beibehaltung der gegenwärtigen Zollfreiheit mit den EU-Ländern und die einheitlichen Ein- und Ausfuhrbestimmungen gegenüber Drittländern nicht nur akzeptabel sondern erwünscht. Nicht erwünscht und nicht akzeptabel ist die Hoheit Brüssels in Fragen der Marktregulierung, beispielsweise die Auflagen der Kommission bei Staatsbeihilfen und zur Privatisierung. In der Praxis kommt es bei Corbyn, ganz wie bei May darauf an, wie die Zollunion mit der EU im einzelnen ausgestaltet ist. Die Regulierungshoheit und die eigene Wirtschaftspolitik wollen beide wiedergewinnen. Der Unterschied besteht – wenig überraschend – darin, welche Regulierung und welche Wirtschaftspolitik eingeschlagen werden soll.