Was deutsche EU-Wahlkämpfer über die Briten zu sagen haben – und was sie damit über sich selbst verraten.

Brexit rechts, EU-Hype links?

Von Pablo Graubner

Die Wahlkampfreden sind noch nicht so richtig in Schwung gekommen, und trotzdem gibt es schon ein wiederkehrendes Thema in diesem EU-Wahlkampf: Der Brexit und seine Folgen. In den hiesigen Medien ist die Rede vom „Brexit-Chaos“, andere sprechen von einem Scherbenhaufen, den die „Brexiteers“ angerichtet hätten. Weder CDU/CSU und SPD noch Grüne oder Linkspartei machen da eine Ausnahme, für die meisten Politiker diesseits des Ärmelkanals dient die Situation als abschreckendes Beispiel.

Merkwürdig einig

Woher kommt diese ungewohnte Einigkeit? Sie hat zwei Gründe. Erstens befindet sich das Königreich tatsächlich in einer politischen Krise. Die konservative Regierungschefin May hat mehrere krachende Niederlagen bei dem Versuch erlitten, ihr Verhandlungsergebnis mit der EU – den Austrittsvertrag zwischen Großbritannien und der EU – durchs britische Unterhaus zu bringen. In einfachen Worten stellt sich die Situation folgendermaßen dar: Die EU möchte den Austrittsvertrag nicht nachverhandeln und besteht auf dem Verhandlungsergebnis, für die große Mehrheit des britischen Parlaments ist er hingegen unannehmbar. Der Austrittstermin, ursprünglich für den 29. März 2019 geplant, ist mehrfach aufgeschoben worden, inzwischen mehr als fünf Monate nach hinten auf den 31. Oktober.

Der weniger offensichtliche Grund für die parteiübergreifende Einigkeit besteht darin, dass man sich in der Ablehnung eines EU-Austrittes und der Bewertung der EU in den Brexit-Verhandlungen weitgehend einig ist. Für SPD, CDU und CSU ist das nicht sonderlich erwähnenswert, denn sie haben die Stärkung der EU bereits zum Aushängeschild ihres Koalitionsvertrages gemacht, für Grüne und Linkspartei hingegen schon. Sven Giegold, seinerzeit Gründer von Attac Deutschland und heute für die Grünen im Europaparlament, verteidigt heute die Kompromisslosigkeit, mit der die EU Nachverhandlungen am Austritts­abkommen ablehnt, und sieht sogar die Chance, dass die Briten doch noch in der EU bleiben könnten.

Gründe des Chaos

Aber was macht das sogenannte Brexit-Chaos eigentlich aus? Zwei Dinge. Erstens kam das Brexit-Referendum zwar auf Initiative der konservativen Tories zustande, die damit ihren rechten Parteiflügel beschwichtigen und neue Mehrheiten für die Mitgliedschaft in der EU gewinnen wollten. Die Stimmenmehrheit für das „Leave“ bei dem Referendum, also für den Austritt Großbritanniens aus der EU, geht jedoch auf eine tiefsitzende soziale Unzufriedenheit zurück. Das Mehrheitsvotum für „Leave“ richtete sich gegen die britischen Eliten, was von diesen auch so empfunden wurde. Es ist daher kein Wunder, dass diese es an nötiger Konsequenz vermissen ließen. Die EU-Befürworterin Theresa May, die das Austrittsabkommen verhandelt hat, kam mit einem Verhandlungsergebnis nach Hause zurück, von dem sie wissen musste, dass es dort abgelehnt wird. Zweitens nutzt die EU das Erpressungspotential aus, das sie mit dem ausgehandelten Backstop hat. „Ein Land kann aus der EU nach den Paragrafen, die in den europäischen Verträgen festgelegt sind, innerhalb von zwei Jahren austreten. Aber aus der Zollunion kommt man offensichtlich nicht raus“, schrieb dazu unlängst der Autor Andreas Wehr.

Der Brexit den Rechten?

Der Ko-Fraktionsvorsitzende der Linkspartei hingegen, Dietmar Bartsch, hat im Januar noch nachgelegt. „Die eigenartige Dramatik der Brexit-Verhandlungen“, gab Bartsch in einem Statement zum Besten, „hat auch ein anderes Resultat produziert. Die rechtspopulistischen Parteien in Europa sind zurückhaltender geworden, was Austrittsambitionen betrifft. Dieser Aspekt der Brexit-Debatte kommt zu kurz, auf den sollten wir auch unser Augenmerk richten.“. Eigentlich die Schlusssätze einer im diplomatischen Ton verfassten Abhandlung, haben es diese Sätze doch in sich. Sie implizieren, ein EU-Austritt im Allgemeinen und der Brexit im Besonderen sei eine Domäne der Rechten, woraufhin natürlich nahe liegt, daraus taktische Schlüsse für antifaschistische Politik zu ziehen. Bartsch erweckt den Eindruck: Wenn die Forderung nach einem EU-Austritt an Rückhalt verliert, ist das eine Niederlage für die Rechten.

Diese Logik ist kein Ausrutscher. Bereits im Oktober 2016 schrieb der Ko-Vorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger, zum Ergebnis des Brexit-Referendums: „Immer wieder wird die Forderung ‚Raus aus der EU‘ oder die eines Austritts aus dem Euro als eine linke Antwort formuliert. Mittlerweile ist den meisten klar, dass die Brexit-Kampagne von nationalistischen und rassistischen Tönen dominiert wurde.“ Zur Verdeutlichung zitiert der Riexinger den links-sozialistischen Autoren Richard Seymor: „In dieser Kampagne spielte die Linke keine Rolle. Es war ein Streit zwischen zwei rechten Lagern, aber das Votum für ‚Leave‘ war die bei weitem hässlichere Option – der Brexit macht Großbritannien zu einem rassistischen Land, ohne dass die Probleme der EU angegangen werden.“ Und Riexinger setzte oben drauf: „So ist es auch nicht verwunderlich, dass Le Pen, die FPÖ oder Wilders zu denen gehörten, die das Abstimmungsergebnis als erste bejubelten.“ Die Linkspartei dürfe in diesen Jubel nicht einstimmen, eindeutig rechts dominierte Austrittskampagnen ließen sich nicht links besetzen.

Der sanfte Neoliberalismus

Bartsch und Riexinger stehen damit nicht alleine. Ähnliche Stimmen gibt es in ganz Europa, allen voran natürlich in Großbritannien. Dort mobilisiert die Allianz „Another Europe is Possible“ innerhalb Labour, aber auch darüber hinaus allgemein links-sozialistische und Mitte-Links-Anhänger gegen den Brexit. „Die Linke gegen den Brexit – Ein internationalistisches Argument für Europa“ hat die Organisation ihre fünfzigseitige Streitschrift überschrieben, die gedruckt und als kostenloser Download auf ihrer Kampagnenwebsite vorliegt. Die Organisation wendet sich ausdrücklich an linke Brexit-Befürworter, wie bereits die ersten Sätze des Pamphlets klar machen: „Es wird immer deutlicher, dass es einen ‚guten Brexit‘ – gar einen ‚People’s‘- oder ‚Left‘-Brexit – gar nicht gibt. Und diese Wirklichkeit wird Millionen Menschen in Britannien allmählich klar. Der Brexit ist letztendlich ein rechtes Projekt. Feurige Euroskeptiker von Nigel Farage bis Daniel Hannan haben seit langem eine nationalistische Abneigung gegen die Idee der europäischen Einheit gehegt – eine Feindseligkeit, die immer mit einer aggressiven Unterstützung des Thatcherismus und einer extremen Ideologie des freien Marktes einherging.“ Je krasser der Marktradikalismus der Rechten gezeichnet wird, so möchte man entgegnen, desto sanftmütiger erscheint der Neoliberalismus, der den EU-Richtlinien und -Verträgen eingestanzt ist.

Alles Rassisten?

Brexit gleich rechts, und linke EU-Gegner die unwillentlichen Steigbügelhalter des Faschismus – so liest es sich in Debattenbeiträgen auf der Kampagnenwebsite von „Another Europe is Possible“. Eine Orientierung, die, konsequent angewandt, auf eine Spaltung der Antifaschisten hinausläuft. So berichtete die sozialistische Tageszeitung „Morning Star“ über die geplanten Proteste gegen den „Betrug am Brexit“ Anfang Dezember 2018 in London, den die UK Independence Party (UKIP) angemeldet hatte. Das Gesicht dieses Protestes war Tommy Robinson, der ehemalige Gründer der militanten faschistischen Organisation English Defense League (EDL), inzwischen UKIP-nah. Neben breiten antifaschistischen Protesten hatte auch „Another Europe is Possible“ einen Protestmarsch angekündigt, in der sie die Gegnerschaft zu dem rechten Aufmarsch ausdrücklich mit ihrer Brexit-Gegnerschaft und ihrem Werben für ein zweites Referendum verband. „Damit hat Another Europe is Possible sowohl die antifaschistischen Kräfte (engl. Anti-Robinson Forces) in Befürworter und Brexit gespalten, als auch Tommy Robinson zum König der Brexit-Befürworter gekrönt“. Und der „Morning Star“-Autor, ein Londoner Aktivist und linker Publizist mit jüdischen Wurzeln, ergänzt: „Viele Menschen haben auch aus anderen Gründen als Rassismus für den Brexit gestimmt. Obwohl rassistische Kräfte an Stärke gewinnen, gibt es nicht 17 Millionen rechtsradikale Rassisten in Großbritannien.“

Tommy Robinson hingegen tourte Mitte März für zwei Wochen von der Industriestadt Sunderland im Nordosten Englands mit 14 Zwischenstopps bis in die Hauptstadt. Die Tour fand unter dem Titel „March to Leave“ statt, was auf Grund der Mehrdeutigkeit des englischen Worts „March“ eine doppelte Bedeutung hat. In Anlehnung an den faschistischen „Marsch auf Rom“ ist es ein Marsch zum Verlassen der EU. Man fordert zugleich den unmittelbaren Austritt, denn das englische Wort „March“ heißt im Deutschen auch „März“. Am 29. März, dem offiziellen Austrittsdatum Großbritanniens aus der EU, hielt er in London die Abschlusskundgebung ab.

Die EU ist nicht neutral

Eine andere Art von Tour führte die aus dem Left Exit (Lexit)-Netzwerk hervorgegangene „The Full Brexit“-Gruppe durch, unter deren Gründern sich auch der bekannte griechischstämmige Ökonom Costas Lapavitsas befindet. „Die Euroskeptiker beschweren sich zu Recht, dass sich mächtige EU-Befürworter in der Elite verschworen haben, den Brexit zu sabotieren“, schreiben „The Full Brexit“ in ihrem Gründungsdokument. Die politischen Parteien hätten den Kontakt zu normalen Menschen verloren. „The Full Brexit“ argumentiert: Die Probleme der niedrigen Investitionen, der stagnierenden Löhne und der alternden Infrastruktur erforderten eine grundlegende Überprüfung des wirtschaftlichen und politischen Modells Großbritanniens. Die Regeln der EU seien demgegenüber nicht neutral, sie enthielten eine Reihe neoliberaler Prinzipien, die die Fähigkeit der Regierungen stark einschränken, diese Änderung des wirtschaftlichen Modells anzugehen.

Eine Forderung, die die Kommunistische Partei Britanniens (CPB) im Grundsatz teilt. Sie fordert ebenfalls einen „Full Brexit“, inklusive eines wirtschaftlichen Brexits, der den Austritt aus der Zollunion einschließt. „Ohne einen wirtschaftlichen Brexit aus den EU-Binnenmarkt- und Zollunion-Regeln würde eine zukünftige Labour-Regierung bei ihren Bemühungen um die Umsetzung linker, fortschrittlicher Politik auf große Hindernisse stoßen. Dies ist ein Grund, warum große Wirtschaftsorganisationen und viele rechtsgerichtete Labour-Abgeordnete so verzweifelt versuchen, einen wirtschaftlichen Brexit zu verhindern, selbst wenn sie einen formellen politischen Brexit nicht verzögern oder verhindern können.“

Welche Haltung?

Obwohl die Brexit-Debatte in Großbritannien nicht einfach auf andere europäische Länder übertragbar ist, so ist sie doch für diese nicht unbedeutend. Denn auch in anderen Ländern, unter anderem in Deutschland, wird im Vorfeld der EU-Wahlen zu Aktionstagen mobilisiert, auf denen der Austritt eines Landes aus der EU ausdrücklich als nationalistisch bezeichnet und der Kampf gegen Rassismus mit einer grundsätzlichen Verteidigung der EU verbunden wird.

Diese Stoßrichtung ist ein deutlicher Rückschritt gegenüber früheren Kampagnen, wie sie zum Beispiel geführt wurden gegen den EU-Verfassungsvertrag ab 2004, gegen den Vertrag von Lissabon 2007, gegen die EU-Bankenrettungspolitik und in Solidarität mit Griechenland, das von Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfond und Europäischer Kommission erpresst wurde. Dabei haben zahlreiche kommunistische und sozialistische Parteien in Europa eine lange Geschichte grundsätzlicher Kritik an der EU und ihrer Vorläufer. Sie unterschieden sich dabei fundamental von rechten Parteien, denn sie gründeten ihre Politik nicht auf rassistische Ressentiments und nationalen Chauvinismus, sondern forderten demokratische und soziale Reformen im Interesse der Arbeiterklasse.

Wenn man nicht als bloßes Anhängsel des Mainstreams agieren, sondern eigene Akzente setzen will, sollte man sich daran erinnern.

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"Brexit rechts, EU-Hype links?", UZ vom 26. April 2019



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