Was deutsche EU-Wahlkämpfer über die Briten zu sagen haben – und was sie damit über sich selbst verraten.
Die Wahlkampfreden sind noch nicht so richtig in Schwung gekommen, und trotzdem gibt es schon ein wiederkehrendes Thema in diesem EU-Wahlkampf: Der Brexit und seine Folgen. In den hiesigen Medien ist die Rede vom „Brexit-Chaos“, andere sprechen von einem Scherbenhaufen, den die „Brexiteers“ angerichtet hätten. Weder CDU/CSU und SPD noch Grüne oder Linkspartei machen da eine Ausnahme, für die meisten Politiker diesseits des Ärmelkanals dient die Situation als abschreckendes Beispiel.
Merkwürdig einig
Woher kommt diese ungewohnte
Einigkeit? Sie hat zwei Gründe. Erstens befindet sich das Königreich
tatsächlich in einer politischen Krise. Die konservative
Regierungschefin May hat mehrere krachende Niederlagen bei dem Versuch
erlitten, ihr Verhandlungsergebnis mit der EU – den Austrittsvertrag
zwischen Großbritannien und der EU – durchs britische Unterhaus zu
bringen. In einfachen Worten stellt sich die Situation folgendermaßen
dar: Die EU möchte den Austrittsvertrag nicht nachverhandeln und besteht
auf dem Verhandlungsergebnis, für die große Mehrheit des britischen
Parlaments ist er hingegen unannehmbar. Der Austrittstermin,
ursprünglich für den 29. März 2019 geplant, ist mehrfach aufgeschoben
worden, inzwischen mehr als fünf Monate nach hinten auf den 31. Oktober.
Der
weniger offensichtliche Grund für die parteiübergreifende Einigkeit
besteht darin, dass man sich in der Ablehnung eines EU-Austrittes und
der Bewertung der EU in den Brexit-Verhandlungen weitgehend einig ist.
Für SPD, CDU und CSU ist das nicht sonderlich erwähnenswert, denn sie
haben die Stärkung der EU bereits zum Aushängeschild ihres
Koalitionsvertrages gemacht, für Grüne und Linkspartei hingegen schon.
Sven Giegold, seinerzeit Gründer von Attac Deutschland und heute für die
Grünen im Europaparlament, verteidigt heute die Kompromisslosigkeit,
mit der die EU Nachverhandlungen am Austrittsabkommen ablehnt, und
sieht sogar die Chance, dass die Briten doch noch in der EU bleiben
könnten.
Gründe des Chaos
Aber was macht das sogenannte
Brexit-Chaos eigentlich aus? Zwei Dinge. Erstens kam das
Brexit-Referendum zwar auf Initiative der konservativen Tories zustande,
die damit ihren rechten Parteiflügel beschwichtigen und neue Mehrheiten
für die Mitgliedschaft in der EU gewinnen wollten. Die Stimmenmehrheit
für das „Leave“ bei dem Referendum, also für den Austritt
Großbritanniens aus der EU, geht jedoch auf eine tiefsitzende soziale
Unzufriedenheit zurück. Das Mehrheitsvotum für „Leave“ richtete sich
gegen die britischen Eliten, was von diesen auch so empfunden wurde. Es
ist daher kein Wunder, dass diese es an nötiger Konsequenz vermissen
ließen. Die EU-Befürworterin Theresa May, die das Austrittsabkommen
verhandelt hat, kam mit einem Verhandlungsergebnis nach Hause zurück,
von dem sie wissen musste, dass es dort abgelehnt wird. Zweitens nutzt
die EU das Erpressungspotential aus, das sie mit dem ausgehandelten
Backstop hat. „Ein Land kann aus der EU nach den Paragrafen, die in den
europäischen Verträgen festgelegt sind, innerhalb von zwei Jahren
austreten. Aber aus der Zollunion kommt man offensichtlich nicht raus“,
schrieb dazu unlängst der Autor Andreas Wehr.
Der Brexit den Rechten?
Der
Ko-Fraktionsvorsitzende der Linkspartei hingegen, Dietmar Bartsch, hat
im Januar noch nachgelegt. „Die eigenartige Dramatik der
Brexit-Verhandlungen“, gab Bartsch in einem Statement zum Besten, „hat
auch ein anderes Resultat produziert. Die rechtspopulistischen Parteien
in Europa sind zurückhaltender geworden, was Austrittsambitionen
betrifft. Dieser Aspekt der Brexit-Debatte kommt zu kurz, auf den
sollten wir auch unser Augenmerk richten.“. Eigentlich die Schlusssätze
einer im diplomatischen Ton verfassten Abhandlung, haben es diese Sätze
doch in sich. Sie implizieren, ein EU-Austritt im Allgemeinen und der
Brexit im Besonderen sei eine Domäne der Rechten, woraufhin natürlich
nahe liegt, daraus taktische Schlüsse für antifaschistische Politik zu
ziehen. Bartsch erweckt den Eindruck: Wenn die Forderung nach einem
EU-Austritt an Rückhalt verliert, ist das eine Niederlage für die
Rechten.
Diese Logik ist kein Ausrutscher. Bereits im Oktober 2016
schrieb der Ko-Vorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger, zum
Ergebnis des Brexit-Referendums: „Immer wieder wird die Forderung ‚Raus
aus der EU‘ oder die eines Austritts aus dem Euro als eine linke Antwort
formuliert. Mittlerweile ist den meisten klar, dass die Brexit-Kampagne
von nationalistischen und rassistischen Tönen dominiert wurde.“ Zur
Verdeutlichung zitiert der Riexinger den links-sozialistischen Autoren
Richard Seymor: „In dieser Kampagne spielte die Linke keine Rolle. Es
war ein Streit zwischen zwei rechten Lagern, aber das Votum für ‚Leave‘
war die bei weitem hässlichere Option – der Brexit macht Großbritannien
zu einem rassistischen Land, ohne dass die Probleme der EU angegangen
werden.“ Und Riexinger setzte oben drauf: „So ist es auch nicht
verwunderlich, dass Le Pen, die FPÖ oder Wilders zu denen gehörten, die
das Abstimmungsergebnis als erste bejubelten.“ Die Linkspartei dürfe in
diesen Jubel nicht einstimmen, eindeutig rechts dominierte
Austrittskampagnen ließen sich nicht links besetzen.
Der sanfte Neoliberalismus
Bartsch und Riexinger
stehen damit nicht alleine. Ähnliche Stimmen gibt es in ganz Europa,
allen voran natürlich in Großbritannien. Dort mobilisiert die Allianz
„Another Europe is Possible“ innerhalb Labour, aber auch darüber hinaus
allgemein links-sozialistische und Mitte-Links-Anhänger gegen den
Brexit. „Die Linke gegen den Brexit – Ein internationalistisches
Argument für Europa“ hat die Organisation ihre fünfzigseitige
Streitschrift überschrieben, die gedruckt und als kostenloser Download
auf ihrer Kampagnenwebsite vorliegt. Die Organisation wendet sich
ausdrücklich an linke Brexit-Befürworter, wie bereits die ersten Sätze
des Pamphlets klar machen: „Es wird immer deutlicher, dass es einen
‚guten Brexit‘ – gar einen ‚People’s‘- oder ‚Left‘-Brexit – gar nicht
gibt. Und diese Wirklichkeit wird Millionen Menschen in Britannien
allmählich klar. Der Brexit ist letztendlich ein rechtes Projekt.
Feurige Euroskeptiker von Nigel Farage bis Daniel Hannan haben seit
langem eine nationalistische Abneigung gegen die Idee der europäischen
Einheit gehegt – eine Feindseligkeit, die immer mit einer aggressiven
Unterstützung des Thatcherismus und einer extremen Ideologie des freien
Marktes einherging.“ Je krasser der Marktradikalismus der Rechten
gezeichnet wird, so möchte man entgegnen, desto sanftmütiger erscheint
der Neoliberalismus, der den EU-Richtlinien und -Verträgen eingestanzt
ist.
Alles Rassisten?
Brexit gleich rechts, und linke
EU-Gegner die unwillentlichen Steigbügelhalter des Faschismus – so liest
es sich in Debattenbeiträgen auf der Kampagnenwebsite von „Another
Europe is Possible“. Eine Orientierung, die, konsequent angewandt, auf
eine Spaltung der Antifaschisten hinausläuft. So berichtete die
sozialistische Tageszeitung „Morning Star“ über die geplanten Proteste
gegen den „Betrug am Brexit“ Anfang Dezember 2018 in London, den die UK
Independence Party (UKIP) angemeldet hatte. Das Gesicht dieses Protestes
war Tommy Robinson, der ehemalige Gründer der militanten faschistischen
Organisation English Defense League (EDL), inzwischen UKIP-nah. Neben
breiten antifaschistischen Protesten hatte auch „Another Europe is
Possible“ einen Protestmarsch angekündigt, in der sie die Gegnerschaft
zu dem rechten Aufmarsch ausdrücklich mit ihrer Brexit-Gegnerschaft und
ihrem Werben für ein zweites Referendum verband. „Damit hat Another
Europe is Possible sowohl die antifaschistischen Kräfte (engl.
Anti-Robinson Forces) in Befürworter und Brexit gespalten, als auch
Tommy Robinson zum König der Brexit-Befürworter gekrönt“. Und der
„Morning Star“-Autor, ein Londoner Aktivist und linker Publizist mit
jüdischen Wurzeln, ergänzt: „Viele Menschen haben auch aus anderen
Gründen als Rassismus für den Brexit gestimmt. Obwohl rassistische
Kräfte an Stärke gewinnen, gibt es nicht 17 Millionen rechtsradikale
Rassisten in Großbritannien.“
Tommy Robinson hingegen tourte Mitte
März für zwei Wochen von der Industriestadt Sunderland im Nordosten
Englands mit 14 Zwischenstopps bis in die Hauptstadt. Die Tour fand
unter dem Titel „March to Leave“ statt, was auf Grund der Mehrdeutigkeit
des englischen Worts „March“ eine doppelte Bedeutung hat. In Anlehnung
an den faschistischen „Marsch auf Rom“ ist es ein Marsch zum Verlassen
der EU. Man fordert zugleich den unmittelbaren Austritt, denn das
englische Wort „March“ heißt im Deutschen auch „März“. Am 29. März, dem
offiziellen Austrittsdatum Großbritanniens aus der EU, hielt er in
London die Abschlusskundgebung ab.
Die EU ist nicht neutral
Eine andere Art von Tour
führte die aus dem Left Exit (Lexit)-Netzwerk hervorgegangene „The Full
Brexit“-Gruppe durch, unter deren Gründern sich auch der bekannte
griechischstämmige Ökonom Costas Lapavitsas befindet. „Die Euroskeptiker
beschweren sich zu Recht, dass sich mächtige EU-Befürworter in der
Elite verschworen haben, den Brexit zu sabotieren“, schreiben „The Full
Brexit“ in ihrem Gründungsdokument. Die politischen Parteien hätten den
Kontakt zu normalen Menschen verloren. „The Full Brexit“ argumentiert:
Die Probleme der niedrigen Investitionen, der stagnierenden Löhne und
der alternden Infrastruktur erforderten eine grundlegende Überprüfung
des wirtschaftlichen und politischen Modells Großbritanniens. Die Regeln
der EU seien demgegenüber nicht neutral, sie enthielten eine Reihe
neoliberaler Prinzipien, die die Fähigkeit der Regierungen stark
einschränken, diese Änderung des wirtschaftlichen Modells anzugehen.
Eine
Forderung, die die Kommunistische Partei Britanniens (CPB) im Grundsatz
teilt. Sie fordert ebenfalls einen „Full Brexit“, inklusive eines
wirtschaftlichen Brexits, der den Austritt aus der Zollunion
einschließt. „Ohne einen wirtschaftlichen Brexit aus den EU-Binnenmarkt-
und Zollunion-Regeln würde eine zukünftige Labour-Regierung bei ihren
Bemühungen um die Umsetzung linker, fortschrittlicher Politik auf große
Hindernisse stoßen. Dies ist ein Grund, warum große
Wirtschaftsorganisationen und viele rechtsgerichtete Labour-Abgeordnete
so verzweifelt versuchen, einen wirtschaftlichen Brexit zu verhindern,
selbst wenn sie einen formellen politischen Brexit nicht verzögern oder
verhindern können.“
Welche Haltung?
Obwohl die Brexit-Debatte in Großbritannien nicht einfach auf andere europäische Länder übertragbar ist, so ist sie doch für diese nicht unbedeutend. Denn auch in anderen Ländern, unter anderem in Deutschland, wird im Vorfeld der EU-Wahlen zu Aktionstagen mobilisiert, auf denen der Austritt eines Landes aus der EU ausdrücklich als nationalistisch bezeichnet und der Kampf gegen Rassismus mit einer grundsätzlichen Verteidigung der EU verbunden wird.
Diese Stoßrichtung ist ein deutlicher Rückschritt gegenüber früheren Kampagnen, wie sie zum Beispiel geführt wurden gegen den EU-Verfassungsvertrag ab 2004, gegen den Vertrag von Lissabon 2007, gegen die EU-Bankenrettungspolitik und in Solidarität mit Griechenland, das von Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfond und Europäischer Kommission erpresst wurde. Dabei haben zahlreiche kommunistische und sozialistische Parteien in Europa eine lange Geschichte grundsätzlicher Kritik an der EU und ihrer Vorläufer. Sie unterschieden sich dabei fundamental von rechten Parteien, denn sie gründeten ihre Politik nicht auf rassistische Ressentiments und nationalen Chauvinismus, sondern forderten demokratische und soziale Reformen im Interesse der Arbeiterklasse.
Wenn man nicht als bloßes Anhängsel des Mainstreams agieren, sondern eigene Akzente setzen will, sollte man sich daran erinnern.
Erschienen in der UZ vom 26. April 2019