Radikalenerlass-Betroffene protestieren gegen erneute Aushebelung der Grundrechte
Die rot-schwarz-grüne Landesregierung in Potsdam hat am 30. August mit den Stimmen aller Ministerien die Wiedereinführung der Regelanfrage beim „Verfassungsschutz“ beschlossen. In den kommenden Wochen soll der Gesetzentwurf im Landtag abgestimmt werden.
Damit drohen ein Dammbruch und eine neue Welle von Berufsverboten wie in der Folge des Radikalenerlasses von 1972. In der BRD kam es damals offiziell zu 3,5 Millionen Regelanfragen beim „Verfassungsschutz“, mindestens 11.000 Verfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, über 1.250 Ablehnungen von Bewerberinnen und Bewerbern sowie 265 Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst. Betroffen waren fast ausschließlich Linke, gegen Rechte wurde der Radikalenerlass faktisch nicht angewendet. Dass die Berufsverbote-Politik der Demokratie schweren Schaden zugefügt und zu Einschüchterung und Duckmäusertum insbesondere bei kritischen jungen Menschen geführt hat, ist heute unstrittig.
Wir sind empört, dass die Landesregierung Brandenburg ausgerechnet im 50. Jahr nach der Verabschiedung des Radikalenerlasses erneut zu Einschüchterung und politischer Verfolgung greifen will. Ausdrücklich nimmt sie in ihrer juristischen Begründung Bezug auf die umstrittene „Gewährbieteklausel“ in den deutschen Beamtengesetzen. Sie ist dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ der Nazis von 1933 entnommen. Darin hieß es, aus dem Staatsdienst sei fernzuhalten, wer „nicht Gewähr bietet, jederzeit rückhaltlos einzutreten für den nationalen Staat.“ In den Beamtengesetzen der BRD wurde der „nationale Staat“ durch die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ ersetzt. Die Beweislastumkehr und die vorzunehmende „Gesinnungsprognose“ sind geblieben.
Auch die Landesregierung schreibt in der Begründung ihres Gesetzesvorhabens wörtlich: „Der Nachweis einer verfassungsfeindlichen Betätigung ist nicht erforderlich. Bei der Prüfung dieser Gewähr handelt es sich um eine einzelfallbezogene Prognose, bei der der einstellenden Behörde ein Beurteilungsspielraum zusteht.“
Die Regierungskoalition schämt sich nicht, zur Begründung den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1975 zu zitieren, der maßgeblich vom ehemaligen SA-Rottenführer, NS-Juristen und späteren Verfassungsrichter Willi Geiger formuliert wurde. Darin heißt es in unverkennbarer Diktion: „Die Treuepflicht fordert mithin mehr als nur eine formal korrekte, im Übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung.“
Dementsprechend behauptet der aktuelle Gesetzentwurf eine „Pflicht zur Bereitschaft, sich mit den Ideen des Staates zu identifizieren“. Er nimmt nicht nur vermeintliche „Verfassungsfeinde“ ins Visier, sondern auch gänzlich undefinierte „Verfassungsskeptiker“. Ausdrücklich wird die beabsichtigte abschreckende Wirkung betont, dass „Bewerberinnen und Bewerber, die der Verfassung im Sinne der freiheitlichen demokratischen Grundordnung skeptisch gegenüberstehen und deshalb auch in der Vergangenheit in Erscheinung getreten sind, dann möglicherweise von einer Bewerbung abgehalten“ würden.
Einziger Unterschied zum Radikalenerlass 1972 scheint, dass der Inlandsgeheimdienst angeblich nur „Erkenntnisse mitteilen (soll), die nicht auf nachrichtendienstlichem Wege gewonnen wurden“. Wie ein Geheimdienst auf anderem Weg zu „Erkenntnissen“ über die Gesinnung eines Bewerbers oder einer Bewerberin kommen soll und wie ein solches Kriterium überprüft werden könnte, bleibt das Geheimnis der Landesregierung.
Als Berufsverbots-Betroffene, die 50 Jahre nach der Verabschiedung des Radikalenerlasses weder rehabilitiert noch entschädigt sind, protestieren wir gegen die erneute Aushebelung von Grundrechten. Einen Inlandsgeheimdienst wie den „Verfassungsschutz“, dessen nachweisliche Verstrickung in rechte Terrornetzwerke bis heute nicht aufgearbeitet ist und zu keinerlei Konsequenzen führte, mit der Jagd auf angebliche „Verfassungsfeinde“ zu betrauen, wird die Demokratie in Deutschland erneut schwer beschädigen. Dem Schutz der Demokratie vor rechten Bestrebungen, der als Begründung angeführt wird, wird diese Maßnahme sicher nicht dienen.
Wir protestieren gegen die Wiederbelebung der Regelanfrage und warnen eindrücklich vor einem weiteren Eingriff in grundgesetzlich garantierte Grundrechte. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat 1987 die Berufsverbote-Praxis als Verstoß gegen Kernnormen des Internationalen Arbeitsrechts (ILO-Übereinkommen Nr. 111) verurteilt. Seit 2006 verbietet auch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) derartige politische Diskriminierung im Beruf.
Die Landtagsabgeordneten fordern wir dringend auf, dieses Gesetz abzulehnen. Wir fordern stattdessen die längst überfällige Aufarbeitung des staatlichen Unrechts, das mit den Berufsverboten der 1970er und 1980er Jahre verbunden war, sowie die Rehabilitierung und Entschädigung der Betroffenen.
1. September 2022