Hier sei vorhergesagt: Dieses Buch wird einmal eines der bedeutsamsten Nachschlagewerke zum Ukraine-Krieg sein und ist es bereits jetzt. Allein schon die 680 Anmerkungen zu Quellen, die Bibliografie und das Personenregister machen es zu einem Musterfall guter alter Wissenschaftsschule. Der Band enthält eine umfassende Darstellung des Ukraine-Krieges – seiner Vorgeschichte, seines Ablaufs seit 2014 und seiner Einordnung in die weltpolitische Konfrontation des Westens mit Russland. Auf dem Buchmarkt gibt es zu Lothar Schröters „Der Ukrainekrieg. Die Wurzeln, die Akteure und die Rolle der NATO“ bislang nichts Vergleichbares.
Der Autor war von 1974 bis 1990 am Militärgeschichtlichen Institut der DDR in Potsdam tätig und dort vor allem mit der Militärgeschichte der BRD und der Geschichte der NATO befasst; auch nach 1990 verfasste er zahlreiche Publikationen zu diesen Themen. Sein neues Buch hat er in acht größere Abschnitte gegliedert – vom Zerfall der Sowjetunion bis zur geostrategischen Einordnung des Krieges.
Methodischer Leitfaden ist für Schröter der historische Materialismus. Im Mittelpunkt stehen daher zu Beginn der wirtschaftliche und soziale Niedergang in Russland und der Ukraine. In Letzterer war das Bruttoinlandsprodukt 1998 – bezogen auf das Jahr 1990 – auf 40,9 Prozent geschrumpft. Die Zahl der Einwohner sank seit 1994 kontinuierlich von rund 51 Millionen auf etwa 38 Millionen im Jahr 2022. Russlands Geschichte verlief in den 1990er Jahren nicht viel anders, bis 1999/2000 „eine neue politische Führungsschicht um den Ministerpräsidenten/Präsidenten Putin das Ruder herumzureißen versuchte“. Das sei „zum blanken Entsetzen“ des Westens gelungen. Vor diesem Hintergrund analysiert Schröter die Ostexpansion der NATO und – in deren Rahmen – die Funktion der Ukraine: „Sie wollten und wollen die Ukraine als Bollwerk, Rammbock und Aufmarschraum gegen Russland in der ganz großen globalen strategischen Auseinandersetzung mit der alten Weltmacht und dem alten Rivalen Russland und perspektivisch mit der Volksrepublik China.“
Aus dieser Perspektive charakterisiert Schröter die „Orangene Revolution”, die 2004 Figuren wie Julia Timoschenko und Wiktor Juschtschenko an die Staatsspitze spülte: Sie senkten Wirtschaftswachstum und Einkommen und verbanden das mit einer bis dahin nicht dagewesenen Entfachung von russophobem Nationalismus, der seit 1991 in der Ukraine ohnehin Staatsreligion geworden war. Akribisch zeichnet Schröter das Resultat dieser Vorgeschichte nach: Die Auseinandersetzungen um das EU-Assoziierungsabkommen im Jahr 2013, die von den USA und der EU vorbereiteten und finanzierten Demonstrationen auf dem Maidan und die blutigen Ereignisse vor dem Putsch am 21. Februar 2014, der nach westlicher Lesart keiner war – nur der gewählte Präsident kam abhanden. Und der Autor hält in aller Klarheit fest: „Der Krieg in der Ukraine begann nicht mit dem Eingreifen Russlands in die schon tobenden Kampfhandlungen am 24. Februar 2022, sondern mit der sogenannten Antiterroroperation Kiews ab 6./7. April 2014.“ Das war, bevor die Volksrepubliken Donzek und Lugansk ausgerufen wurden, die zunächst lediglich mehr Autonomie anstrebten und das Recht auf Gebrauch der russischen Sprache gemäß der ukrainischen Verfassung in Anspruch nahmen. Überdies berichtet Schröter vom Massaker von Odessa am 2. Mai 2014, das jedem klarmachte, wozu die Faschisten fähig waren. Und er geht den beiden Minsker Abkommen und der Täuschung Russlands durch Kiew, Berlin und Paris nach.
Ausführlich schildert Schröter den Streit darum, ob es sich bei der russischen Militäraktion vom 24. Februar 2022 um einen Bruch des Völkerrechts handelte oder nicht und nennt auch jene Argumente, nach denen kein Verbrechen der Aggression vorliegt.
Ein Fazit zieht der Autor unter anderem mit einem Zitat: „Der Ausgang des Ukrainekrieges wird fundamentale Bedeutung haben. Und zwar dafür, wie die ‚neue Weltordnung‘ nach Ende des Kalten Krieges 1989/90 und dem darauffolgenden, gut drei Jahrzehnte währenden Interregnum des Neusortierens der weltpolitischen Akteure aussehen wird. Völlig zu Recht schreibt John P. Neelsen, der Ukrainekonflikt ‚ist Alibi und erster bewaffneter Schlagabtausch in diesem Krieg um eine zukünftige Weltordnung mit Russland und China im Fokus‘“. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Lothar Schröter
Der Ukrainekrieg. Die Wurzeln, die Akteure und die Rolle der NATO
edition ost, Berlin 2024, 348 Seiten, 32 Euro
Erhältlich im UZ-Shop