Die Diskussion um die Ausgestaltung des digitalen Wandels steckt in der sozialistischen und kommunistischen Bewegung Deutschlands noch in den Kinderschuhen. Oft herrscht Skepsis gegenüber den gar nicht mehr so „neuen Medien“ vor. Die meisten Debatten widmen sich grundlegenden Fragen nach der wirtschaftshistorischen Einordnung des Internets, seiner Potenziale und Risiken, wie etwa im Internet-Schwerpunkt der Marxistischen Blätter vom September 2014 oder in der Diskussion von Evgeny Morozovs Thesen zur Digitalen Revolution, die seit einigen Wochen in der jungen Welt läuft. Konkreteren Fragen zur Auswirkung der Digitalisierung auf Arbeitsverhältnisse widmet sich bislang vor allem die Rosa-Luxemburg-Stiftung in diversen Positionspapieren und Veranstaltungen.
Ein wesentliches politisches Handlungsfeld des digitalen Wandels, nämlich die Verteidigung von Bürger- und Freiheitsrechten, wird allerdings noch viel zu wenig als linkes Kernthema besetzt. Bei aller berechtigten Kritik an sozialen und ökonomischen blinden Flecken, die beispielsweise die Politik der Piratenpartei kennzeichnen, sollte die Arbeit solcher meist linksliberaler NetzaktivistInnen zu ihren Kernthemen nicht gering geschätzt werden, denn SozialistInnen und KommunistInnen können von ihren Analysen und Kämpfen viel dazulernen.
Ein Beispiel dafür bot der 39. Netzpolitische Abend am 4. August. Die Veranstaltungsreihe im Berliner Hackerclub C-Base bietet ein monatliches Forum für Diskussionen netzpolitisch Aktiver. Der veranstaltende Verein Digitale Gesellschaft versteht sich als „Initiative für eine menschenrechts- und verbraucherfreundliche Netzpolitik“.
Den Abend eröffnete Alexander Sander mit einem Bericht über das Engagement des Vereins gegen die Bundes- und EU-Pläne zur Vorratsdatenspeicherung von Kommunikations- und Reisedaten. Nachdem Maren Heltsche die Iniative Digital Media Women vorgestellt hatte, die sich die Förderung von Gender Diversity in der Digitalbranche zur Aufgabe gemacht hat, folgte der unfreiwillige „Star“ des Abends: Markus Beckedahl, Gründer und Chefredakteur der Nachrichtenseite Netzpolitik.org, war kurz vorher überraschend zu bundesweitem und internationalem Ruhm gelangt. Fünf Tage zuvor war ihm bekannt gegeben worden, dass gegen ihn und seinen Kollegen Andre Meister wegen Landesverrats ermittelt werde. Grund: die Veröffentlichung als vertraulich eingestufter Ausschnitte aus Haushaltsplänen des Verfassungsschutzes, mit denen Meister seine Recherchen zum massiven Ausbau der Internetüberwachung durch den Geheimdienst belegt hatte. Zwar war die Veröffentlichung bereits im Februar und April erfolgt, doch kam erst am Donnerstag, dem 30. Juli, die offizielle Mitteilung, dass Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen Strafanzeige gestellt und Generalbundesanwalt Harald Range Ermittlungen aufgenommen habe.
Der Vorwurf des Landesverrats wiegt schwer: Im Falle einer Verurteilung drohen mehrjährige Haftstrafen. In der bundesrepublikanischen Geschichte wurde er nur extrem selten gegen Journalisten angewandt. Das bekannteste Beispiel ist die Spiegel-Affäre von 1962.
Nachdem die Netzpolitik-Redaktion die Anzeige öffentlich gemacht und verschiedene Medien berichtet hatten, ruderte Range am nächsten Tag zurück und erklärte, dass die Ermittlungen bis zur Erstellung eines Rechtsgutachtens vorerst ruhen würden. Doch der Stein war bereits ins Rollen gebracht, so dass am 1. August in Berlin zwischen 1 300 und 2 000 Menschen einem Demonstrationsaufruf folgten, der die Ermittlungen als das benannte, was sie sind: ein Angriff auf die Pressefreiheit durch Einschüchterung kritischer JournalistInnen.
In den nächsten Tagen schlug der Fall auch international Wellen. Viele Interviewanfragen wie die eines staatlichen Fernsehsenders aus Russland lehnten die Beschuldigten jedoch ab. Sie wollten nicht, dass ihr Fall instrumentalisiert wird, um mit Verletzungen der Pressefreiheit in Deutschland ebensolche oder schlimmere Verletzungen in anderen Ländern zu relativieren. Am Montag schließlich war der Fall eine Stunde lang Thema in der Bundespressekonferenz. Bundesjustizminister Heiko Maas wurde die Angelegenheit offenbar zu heiß – als Vorgesetzter des Generalbundesanwalts ist dieser an seine Weisungen gebunden. So gab er am Dienstag die Versetzung Ranges in den Ruhestand bekannt, was während eines „Public Viewing“ der Tagesschau beim Netzpolitischen Abend begeistert beklatscht wurde.
Doch er und Meister wollen sich mit der Absetzung Ranges, die sie als Bauernopfer empfinden, nicht zufrieden geben. Mittlerweile hatte die Süddeutsche Zeitung berichtet, dass die Ermittlungen bereits zwei Monate vor der Bekanntgabe Ende Juli eingeleitet worden seien. Bislang gibt es zum Umfang der Ermittlungen und zu den dabei gesammelten Daten keine offizielle Stellungnahme. Zudem harrt die tatsächliche Rolle von Verfassungsschutz-Präsident Maaßen noch immer der Aufklärung, der den Fall durch seine Anzeige initiiert hatte. Zwar hat der amtierende Generalbundesanwalt Gerhard Altvater am 10. August die Einstellung der Ermittlungen gegen die beiden Journalisten bekanntgegeben, doch sind mehrere hundert potentielle Quellen der Netzpolitik.org-Recherchen noch immer von Ermittlungen „gegen Unbekannt“ wegen des Verrats von Dienstgeheimnissen betroffen. Beckedahl und Meister fordern deshalb auch ein Whistleblower-Gesetz, welches Informanten schützt, die Informationen über gesetzwidriges Verhalten ihrer Dienststellen öffentlich machen. Beckedahls Fazit, das er unter dem Applaus des Publikums zog: „Bloggen lohnt sich. Legt Euch nicht mit dem Internet an.“
Organisationen wie Netzpolitik.org und Digitale Gesellschaft sind somit weiter auf Unterstützung angewiesen – nicht zuletzt durch das Wachhalten der öffentlichen Aufmerksamkeit. Bei diesen Auseinandersetzungen sollten KommunistInnen und SozialistInnen nicht in Äquidistanz verharren nach dem Motto: Da zeigt der bürgerliche Staat einfach nur sein wahres Gesicht. Die Verteidigung von Freiheits- und Bürgerrechten ist eine Grundvoraussetzung für grundlegende gesellschaftliche Veränderung. In den kommenden Jahren wird die aktive Gestaltung der Auswirkungen, die die Digitalisierung auf Ökonomie und Gesellschaft hat, ein wesentliches Feld politischer Kämpfe sein. Die Linke tut gut daran, sich in diesem Feld rechtzeitig zu positionieren und zu engagieren.
Sämtliche Referate des Netzpolitischen Abends sind auf digitalegesellschaft.de als Mitschnitt verfügbar.