Familiennachzug bricht den Rechtsstaat

Blinde Kuh vor dem Gesetz

Von Roman Stelzig

Die Bundesregierung scheint einmal mehr humanistisch über sich hinaus zu wachsen: Seit 1. August dürfen Flüchtlinge, die als subsidiär Schutzberechtigte in Deutschland leben, ihre engsten Familienangehörigen nachziehen lassen. Das heißt, natürlich nur mit Einschränkung und schon gar nicht alle. Abendlandswächter wie Innenminister Horst Seehofer sehen darin den gefährlichen Weg geebnet, auf dem bald wieder die Hunnen in Europa einfallen. Dabei markiert das neue Gesetz auf ganz andere Weise eine Grenze zwischen Rechtsstaat und Barbarei.

Subsidiär Schutzberechtigte ist die Bezeichnung für Menschen, die aus keinem herkömmlichen Grund Asyl erhalten, aber wegen ernsthafter Bedrohung, wie Todesstrafe oder Folter, nicht in ihre Heimatländer abgeschoben werden dürfen. Sie besitzen eine Aufenthaltserlaubnis mit Anspruch auf Sozialleistungen und eingeschränkte Arbeitserlaubnis für ein Jahr, die danach um jeweils zwei Jahre verlängert werden und nach fünf in eine Niederlassungserlaubnis umgewandelt werden kann, wenn ausreichende Deutschkenntnisse und ein Lebensunterhalt vorhanden sind. Vom 1. August 2015 bis 17. März 2016 durften sie Familienmitglieder wie Ehepartner, Eltern oder Kinder aus ihren Herkunftsländern nach Deutschland einreisen lassen.

Das hatte die Regierungskoalition zunächst erlaubt, aber mit dem Gesetz zur „Einführung beschleunigter Asylverfahren“, dem sogenannten Asylpaket II, wieder verboten, um die Festung Europa nach dem Ansturm von Flüchtlingen im Sommer 2015 zu sichern. Die Regelung sollte zwei Jahre lang gelten und war Anfang des Jahres Streitpunkt in den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD. Am 15. Juni beschloss der Bundestag dann das Gesetz über den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte, das seit diesem Monat in Kraft ist. Und wir erinnern uns, wie die Sozialdemokraten den würdelosen Bruch ihrer Absage an eine weitere Große Koalition durch „beinharte“ Zugeständnisse der Christdemokraten rechtfertigte.

Zu den Verschärfungen des Gesetzes gehört, dass das Recht auf Familiennachzug nur noch für Mitglieder sogenannter Kernfamilien gilt, also Ehegatten, Eltern, Minderjährige und unverheiratete minderjährige Kinder von Geflüchteten. Andere Familienangehörige wie volljährige Kinder, Eltern volljähriger Geflüchteter oder auch Geschwister bleiben ausgeschlossen. Und während man noch dankbar dafür sein kann, mit Horst Seehofer nicht verwandt und schon gar nicht verbrüdert zu sein, hebt die Quotierung des Familiennachzugs auf 1 000 Personen im Monat den Sinn der Regel vollständig auf. Das zeigt die nackte Zahl von 34 000 Anträgen, die den deutschen Auslandsvertretungen dagegen bereits vorliegen.

Nach welchen Kriterien wird bei ihnen entschieden, ob zum Beispiel eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, wenn die Anzahl der möglichen positiven Bescheide von vornherein feststeht? Die neuen Kreuzfahrer des christlichen Abendlandes werden nicht davon ablassen, ihre menschenverachtende Sicht auf den Rest der Welt mit der großen Überlegenheit des westeuropäischen Rechtsstaates zu begründen. Eines seiner elementaren Prinzipien lautet aber: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, wie Artikel 3 des Grundgesetzes besagt. Dagegen verstößt eine Quotierung, die das Recht auf Schutz der Familie willkürlichen Entscheidungen überlässt.

Aber gerade in seiner Fähigkeit, gegen das allgemeine Gesetz das einzelne Leben zu schenken, zeigt sich die wahre Macht des Cäsarentums. Nur, die Besucher des Kolosseum in Rom glaubten wenigstens nicht mehr daran, in einer Republik zu leben. Wir werden sicherlich bald wieder die kümmerlichen Reste Menschlichkeit dieses Gesetzes verteidigen gegen den Vorwurf, ein Auswurf des Gutmenschentums der Merkel-Regierung zu sein.

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"Blinde Kuh vor dem Gesetz", UZ vom 10. August 2018



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