Die deutschen Landwirtschaftsbetriebe heuern jährlich rund 300.000 Saisonkräfte an. Nur im vergangenen Jahr waren es aufgrund der Corona-Pandemie deutlich weniger. Der Deutsche Bauernverband geht davon aus, dass in diesem Jahr wieder „Normalität“ einkehrt. Das bedeutet für die Saisonarbeiter: Schwere körperliche Arbeit unter miserablen Bedingungen für Billiglohn.
Die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung kennt viele Methoden der Ausbeutung und Formen prekärer Beschäftigung. Für Erntehelfer in der Landwirtschaft ist die „kurzfristige Beschäftigung“ ein besonders perfides Mittel zur Lohndrückerei. Diese Beschäftigungsform ist für den Unternehmer und den Lohnabhängigen sozialversicherungsfrei. Der Unternehmer muss den Beschäftigten lediglich bei der Minijobzentrale anmelden und Pflichtbeiträge an die Unfallversicherung abführen.
Bei der kurzfristigen Beschäftigung gibt es keine monatlichen Einkommensgrenzen, wie im Falle der ebenfalls sozialversicherungsfreien 450-Euro-Jobs. Damit eine Beschäftigung als kurzfristig eingestuft wird, gelten allerdings zwei andere Voraussetzungen: Sie darf erstens nicht „berufsmäßig“ ausgeübt werden. Das heißt, der Job muss für den Beschäftigten von untergeordneter wirtschaftlicher Bedeutung sein und nicht zur Sicherung des Lebensunterhaltes dienen. Zweitens darf sie nur für maximal 70 Tage im Kalenderjahr ausgeübt werden. Bis 2014 betrug diese Obergrenze noch 50 Tage. Dann wurde sie auf Druck der Landwirtschaftslobby im Rahmen des „Tarifautonomiestärkungsgesetzes“ auf 70 Kalendertage angehoben.
Als die Bundesregierung die Landwirtschaft zu Beginn der Corona-Pandemie als „systemrelevant“ einstufte, wurde nicht nur eine Ausweitung der Arbeitszeit ermöglicht, sondern auch die kurzfristige Beschäftigung von März bis Oktober 2020 auf 115 Tage erhöht. Geht es nach der Landwirtschaftslobby, wird diese Anhebung in der Erntesaison 2021 reaktiviert.
Aus Sicht der Kapitalseite macht das Sinn. Die meist aus Osteuropa stammenden Saisonarbeiter sind besonders billige Arbeitskräfte. Sie müssen ihre Arbeitskraft oft unter miserablen Bedingungen auf den Spargel- und Erdbeerfeldern verkaufen. Trotz schwerer körperlicher Arbeit ist eine Krankenversicherung die Ausnahme, Rentenansprüche werden nicht erworben. Die Unterbringung erfolgt häufig in menschenunwürdigen Massenunterkünften, die sich durch Überbelegung, schlechten baulichen Zustand und zu wenig Sanitäreinrichtungen auszeichnen.
Durch die Arbeit von Gewerkschaften und Beratungsstellen sind in der Vergangenheit eine Reihe dieser Praktiken aufgedeckt worden. Ein besonders prominenter Fall ereignete sich auf einem Erdbeerhof in Rheinland-Pfalz. Hier wurden den Erntehelfern nach deren Ankunft die Ausweise abgenommen, ihre Arbeitsverträge wurden einbehalten. Die aus Rumänien stammenden Kolleginnen und Kollegen wurden in einer Halle in der Nähe der Felder untergebracht – je zehn Erntehelfer in einem improvisiert abgetrennten Raum. Etwa 150 Menschen teilten sich vier Toiletten. Für das Essen, bestehend aus Kartoffeln und Brot, wurden fünf Euro pro Tag vom kärglichen Lohn abgezogen.
Mit der Corona-Pandemie haben sich die Rahmenbedingungen der Erntehelfer noch einmal verschlechtert. Durch die Infektionsschutz- und Quarantänebestimmungen sowie die besonderen Ein- und Ausreiseregelungen hat deren Abhängigkeit von ihren „Arbeitgebern“ erheblich zugenommen. Die Löhne werden häufig in bar am Ende der Saison und ohne transparente Abrechnung ausgezahlt. Sie sind vielfach geringer als der gesetzliche Mindestlohn. Durch Akkordlohnvereinbarungen über Mengen, die pro Tag geerntet werden müssen, werden die Löhne weiter gesenkt. Arbeitszeitaufzeichnungen werden händisch durch Vorarbeiter getätigt und von den Beschäftigten unterzeichnet, auch wenn sie die tatsächlich geleistete Arbeitszeit unterschreiten. Andernfalls droht die Kündigung.
Ein erster Schritt, diese katastrophalen Bedingungen zu verbessern, wäre eine Erleichterung der Zutrittsregelungen für Gewerkschafter und Berater der Initiative „Faire Landarbeit“ zu den Erntehelfern. Nur so können sie über ihre Rechte aufgeklärt werden, um im nächsten Schritt gewerkschaftliche Solidarität zu organisieren.