Die Beziehungen zwischen Russland und den NATO-Staaten, speziell den USA, befinden sich in einem miserablen Zustand. Die Spannungen flammten wieder auf, als die ukrainische Führung begann, einen massiven Truppenaufbau an der Grenze der Donbass-Republiken zu betreiben und eine Wiedereroberung der beiden Volksrepubliken wie auch der zu Russland gewechselten Krim offen propagierte. Diese Unternehmen würden nach Lage der Dinge nur dann in den Bereich der Möglichkeiten geraten, wenn sich die US-Führung zu einer massiven Militärintervention entschließen würde. Aber selbst dann wäre ein Erfolg keineswegs gesichert. Dies wäre das erste Mal seit 1945, dass es die US-Militärmaschine mit einem gleichwertigen, möglicherweise sogar überlegenen Gegner zu tun bekäme. Nun allerdings nicht mehr auf dem Höhepunkt ihrer Machtentfaltung, sondern ausgezehrt durch die Korruption und Profitsucht einer großenteils neoliberal privatisierten Söldnerarmee und ihres militärisch-industriellen Komplexes, dazu ausgebrannt durch die verlorenen Kriege gegen weitaus schwächere Gegner wie Irak, Afghanistan oder Syrien. Die westlichen Hoffnungen auf einen (fiktiven) Guerillakrieg nach einer Eroberung der Ukraine durch die russischen Streitkräfte sagen viel über die Lageeinschätzung der strategischen Zirkel. Nicht wenige Militärexperten haben erhebliche Zweifel an den Erfolgsaussichten einer US-amerikanischen Militärintervention.
Offenbar sehen das die führenden Kreise des Pentagon ähnlich. Hier besteht erkennbar wenig Neigung, wegen der ukrainischen Protofaschisten eine weitere demütigende Niederlage zu riskieren. Washington hatte also abgewunken und sich stattdessen in die üblichen Sanktionsdrohungen geflüchtet. Wie üblich sollten es die härtesten und schwersten seit der Erfindung des Rades werden. Die russische Führung hatte sich ihrerseits wenig beeindruckt gezeigt und im Gegenzug ein Ende der Ostexpansion der NATO gefordert. Und nicht nur das: Russland hat den Abbau aller Militäreinrichtungen, die nach dem Ende des Kalten Krieges in Osteuropa errichtet wurden, gefordert. Nicht ohne Grund – Washington hat die ukrainischen Russlandhasser massenhaft mit modernem Kriegsgerät ausgerüstet. Pentagon-Chef Lloyd Austin hatte „die Tür“ für einen NATO-Beitritt der Ukraine und Georgiens „offen“ gesehen. Für notorische Kriegstrommler wie NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg gibt es natürlich nichts und niemanden, der dazu berechtigt wäre, die Expansion des „rein defensiven“ NATO-Bündnisses zu stoppen. Wladimir Putin hat dies nicht grundlos als eine existentielle Bedrohung Russlands bezeichnet. Moskau wäre von der Ukraine aus mit modernen Raketen binnen Minuten zu erreichen – eine Bedrohung, die Russland nicht ohne Antwort lassen könne. Es gäbe keine Möglichkeit, sich weiter zurückzuziehen. „Keinen Schritt zurück“, hatte Außenminister Sergej Lawrow Stalins Worte vor der Schlacht von Stalingrad wiederholt.
Aus der (vorläufigen) Weigerung Washingtons, an der Seite der Ukraine gegen Russland zu Felde zu ziehen, ergibt sich zumindest eine gewisse Verhandlungslogik – sehr zum Unwillen nicht weniger europäischer Russlandfalken. So traf sich der russische Vizeaußenminister Sergej Ryabkow am 10. Januar mit seiner Amtskollegin Wendy Sherman in Genf, zwei Tage später nahm Vizeaußenminister Alexander Gruschko am NATO-Russland-Meeting in Brüssel teil. Nur einen Tag später diskutierte die OSZE in Wien mit dem russischen OSZE-Botschafter Alexander Lukaschewitsch die brisante Lage in Osteuropa. Bei diesen Gesprächen bestätigte sich der Eindruck, der schon bislang aus dem Tauziehen um die Ukraine zu gewinnen war: Die Musik spielt in Washington und Moskau – Europa ist abgemeldet. Das Gespräch Ryabkow-Sherman war das substanzielle, Brüssel und Wien hatten eher Informationscharakter. Das war nicht gerade das, was man in Brüssel, Paris und Berlin sehen wollte.
Wie kaum anders zu erwarten, kam es in Genf zu keinen substantiellen Bewegungen. In den westlichen Stäben herrscht große Verunsicherung, wie auf die russischen Vertragsvorschläge zu antworten ist. Sherman, aber auch Stoltenberg und nebenbei auch Annalena Baerbock wussten sich nicht anders zu helfen, als auf die alten antirussischen Satzbausteine des Wertewestens und die Sanktions- und Drohpolitik zurückzugreifen. Hier sieht die Lage allerdings komplett anders aus als noch 2008, während der Finanzkrise, oder 2014 nach dem Maidan-Putsch. Russland hat intensiv – und wie es aussieht, ziemlich erfolgreich – daran gearbeitet, sich gegen Sanktionen und Blockaden zu immunisieren. Ryabkow konnte recht entspannt auf die Rückwirkung dieser Erpressungspolitik auf die Ökonomien des Westens, speziell der EU, verweisen. Die russische Forderung nach einem Stopp der NATO-Ostexpansion wird ein Dauerthema werden. Es dürften wohl die Nadelstreifenträger aus Industrie und Finanzen sein, welche die überambitionierten Ostlandreiter wie Baerbock und Stoltenberg auf den Boden der Tatsachen zurückholen.
Es ist für die westliche „Elite“ und deren olivgrüne Derivate nur schwer zu verdauen, dass nach jahrhundertelanger westlicher Vorherrschaft die ehemals Verachteten und Getretenen nun beginnen, Forderungen zu stellen, die nicht mehr einfach vom Tisch zu wischen sind. Da setzt bei einigen Vertretern des identitätspolitischen Menschenrechtsinterventionismus sichtbar Schnappatmung ein. Die eurasische Kooperation mit ihren Hauptprotagonisten, China und Russland, hat eine Entwicklungsstufe erreicht, welche die Aussichten auf erfolgreiche Regime-Change-Operationen ebenso minimiert haben wie die Chance, missliebige Staaten mit Sanktionen in die Knie zwingen zu können. Dem Wertewesten kommen seine Repressionsinstrumente abhanden. Keine so schlechte Botschaft für 2022.