Es war ein langersehnter Lebenstraum, der seit September 2024 in Erfüllung geht. Mit leichtem Gepäck durch Südamerika reisen und dabei soziale, politische und kulturelle Eindrücke sammeln. Zur Halbzeit meiner Tour gibt es viel zu berichten, aber auch neue Fragen.
Brasilien – gelingt die Überwindung der Spaltung?
Die erste Station meiner insgesamt rund neunmonatigen Lateinamerika-Reise war São Paulo, die mit 12,4 Millionen Einwohner größte Metropole Brasiliens. Als „Bub vom Land“ im kleinen Österreich (9,2 Millionen Einwohner) begegnete ich dieser Monster-Stadt mit großem Respekt, zumal die Schlagzeilen über Diebstahl, Raub, Gewalt und Mord omnipräsent sind.
Mehr als 70 Prozent der brasilianischen Bevölkerung leben in Städten, sie sind die sozialen Brennpunkte Brasiliens, das zu den Ländern gehört, in denen die Einkommen am ungerechtesten verteilt sind. Die Spaltung in Arm und Reich ist enorm und dies wirkt sich unweigerlich auf die Bedingungen aus, unter denen die Menschen wohnen und (über-)leben.
Meine erste Unterkunft im Viertel Bela Vista von São Paulo ist beispielhaft. Das 18-stöckige Wohnhaus, in dem sich mein Apartment befand, ist mit einem drei Meter hohen Eisenzaun umgeben, in einem Wächterhaus mit verdunkelten Fensterscheiben sitzt ein Sicherheitsmann. Drinnen befinden sich Eigentumswohnungen, die zwischen 35.000 und 3,5 Millionen Euro kosten. Für brasilianische Durchschnittsverdiener (12.303 Euro/Jahr laut OECD) kaum finanzierbar – Mindestlohnbezieher (rund 5.000 Euro/Jahr) können davon sowieso nur träumen.
Wer es in den Wohnkomplex schafft, lebt auf den ersten Blick wie im Paradies: Swimming-Pool, Partysaal, Dachterrasse mit tollem Ausblick und Grillmöglichkeit, Spielplatz für die Kinder, Fitnessstudio, High-Tech-Wäscherei und ein kleiner Supermarkt mit Self-Checkout-System, der rund um die Uhr geöffnet hat.
In den letzten zwanzig Jahren ist es in ganz Brasilien zu einem Aufschwung dieser „Gated Communities“ gekommen. Die brasilianischen Städte sind gespalten in Favelas (Slums) und No-go-Areas auf der einen Seite und Lifestyle- und Gated Communities auf der anderen. Mein persönlicher Eindruck war, dass auch die Reichen in ihren Bunkern mit dieser Lebenssituation nicht wirklich glücklich sind. Ich war jedenfalls froh, als ich danach für ein paar Tage das zauberhafte Städtchen Paraty an der Südostküste Brasiliens besuchen konnte, bevor es nach Rio de Janeiro weiterging.
In der heimlichen Hauptstadt Brasiliens an der Copacabana hatte ich das große Glück, von einer österreichisch-brasilianischen Familie begleitet zu werden. Dabei stand auch ein Besuch der berühmt-berüchtigten Favela Vidigal am Programm. Jahrzehntelang galt die Favela aufgrund von Drogenkrieg und tödlichen Polizeieinsätzen als einer der gefährlichsten Orte Rios. Heute wird Vidigal als „befriedete Favela“ bezeichnet und ist zu einem alternativen Touristen-Hotspot geworden. Polizei und das herrschende Drogenkartell haben sich arrangiert, die rund 15.000 Einwohner leben in relativer Sicherheit – sofern man sich an die Spielregeln der Drogenbosse hält.
Der Handel mit illegalen Drogen ist in Brasilien weit verbreitet. Nach dem jüngsten Weltdrogenbericht, der 2024 vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) veröffentlicht wurde, ist Brasilien eines der Länder mit dem größten Kokainkonsum.
Bei der in Brasilien weiterhin vorherrschenden Armut und Perspektivlosigkeit ist die Sehnsucht nach der Erlösung aus dem Elend verständlich. Als Marxisten wissen wir jedoch, dass „die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter sein“ kann, wie es im „Einheitsfrontlied“ von Bertolt Brecht so treffend heißt. Doch es gibt einige, die diese Einsicht vernebeln wollen. Neben Drogen übernimmt in Brasilien diese Aufgabe seit Jahrhunderten die Römisch-Katholische Kirche, in den letzten Jahrzehnten verstärkt auch protestantische Freikirchen. Auf meiner Reise konnte ich gut beobachten, dass es neben den traditionellen Kirchengebäuden in jedem Winkel Brasiliens – und von außen oft unscheinbar – kleine und große „Tempel Gottes“ gibt. Auch im Fernsehen sind die exzentrischen Prediger omnipräsent.
Und hilft der Glaube gegen die Beschwerden des Alltags nicht, braucht es andere Mittelchen, um das Leben zu ertragen. In keinem anderen Land, in dem ich bisher war, habe ich so viele Drogerien mit inkludierten Apotheken gesehen wie in Brasilien. Es wird gemunkelt, dass hinter dieser großen Anzahl nicht nur die gesteigerte Nachfrage nach Medikamenten steckt, sondern mit der Eröffnung von Apotheken auch Schwarzgeld aus dem Drogenhandel gewaschen wird.
Nach fast einem Monat Brasilien mit weiteren Stationen in Curitiba, Blumenau, Florianópolis und Porto Alegre ging es am 10. Oktober mit dem Bus von Pelotas nach Montevideo, der Hauptstadt von Uruguay, wo ich spannende politische Zeiten hautnah mitverfolgen durfte.
Uruguay – neuer Hoffnungsträger für die Linke?
Im mit 3,5 Millionen Einwohner zweitkleinsten Staat Südamerikas fanden am 27. Oktober vergangenen Jahres Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt (siehe UZ vom 25. Oktober 2024), mit ein Grund, rund drei Wochen in der schönen Stadt Montevideo zu verbringen. Zahlreiche Treffen mit Gewerkschaftern und Vertretern der Frente Amplio (FA), einem linken Parteienbündnis, dem auch die Kommunistische Partei Uruguays (PCU) angehört, standen auf dem Programm. Hinzu kamen kleinere und größere Kundgebungen mit bis zu 100.000 Menschen.
Die Stimmung war hoffnungsfroh und siegesbewusst. Die seit März 2020 regierende rechte Koalition aus Partido Nacional und Partido Colorado – amtierender Präsident ist Luis Lacalle Pou von der Nationalen Partei – hat dem Land durch Privatisierungen und Korruption erheblichen Schaden zugefügt. Insbesondere in der progressiven Hauptstadt Montevideo herrschte Wechselstimmung.
Die erste Wahlrunde brachte schließlich auch den prognostizierten Sieg der Frente Amplio (43,8 Prozent), doch das Ergebnis der rechten Parteien fiel besser aus als erwartet – zusammen kamen sie auf über 45 Prozent. Mir und meinen Freunden in Montevideo war jedenfalls an diesem Wahlabend nicht zum Feiern zumute. Auch das deutliche Scheitern der von der Gewerkschaft initiierten Volksabstimmung für sichere Pensionen trübte die Stimmung.
Bei der Stichwahl am 24. November setzte sich schließlich doch Yamandú Orsi (FA) durch und wird am 1. März sein Amt als Präsident Uruguays antreten.
Sein Sieg markiert die Rückkehr der Frente Amplio an die Macht, die Uruguay zwischen 2005 und 2020 regierte, aber es bleibt abzuwarten, ob es dem Sozialdemokraten Orsi gelingen wird, die zahlreichen Hoffnungen auf soziale Verbesserungen zu erfüllen. Die programmatischen Schwerpunkte der neuen Regierung liegen auf Wirtschaftswachstum, sozialer Integration und Sicherheit. „Es ist ehrlich zu erkennen, dass sich der Staat heute nicht um sein Volk kümmert und dass es ein Uruguay gibt, in dem nur sehr wenige feiern und viele leiden“, fasste Orsi im Wahlkampf die zentrale Problematik zusammen.
Auf regionaler Ebene bezeichnete Orsi die venezolanische Regierung von Nicolás Maduro als „Diktatur“ und sagte, er identifiziere sich mit dem brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, dann mit dem Chilenen Gabriel Boric und dann mit dem Kolumbianer Gustavo Petro, in dieser Reihenfolge.
Ob Uruguay damit ein Vorbild für die Linke in Südamerika darstellt, ist fraglich. Außerdem: Was „links“ heutzutage bedeutet, sorgt nicht nur in Europa für Diskussionsstoff.
Argentinien – wann kommt der nächste Aufstand?
Ende Oktober brachte mich die Fähre von Colonia de Sacramento nach Buenos Aires, der Hauptstadt Argentiniens. Seit über einem Jahr ist dort der Anarchokapitalist Javier Milei Präsident und unterzieht das Land einer ultraneoliberalen Schocktherapie. Mit Mileis Amtsantritt im Dezember 2023 wurde die Kettensäge angeworfen – seither können die Argentinier den Kahlschlag ihrer letzten verbliebenen sozialen Errungenschaften hautnah miterleben. Im ersten Halbjahr der radikalliberalen Regierung ist die Zahl der von Armut betroffenen Menschen auf über 53 Prozent der Bevölkerung gestiegen – fast 20 Prozent haben nicht genug Geld, um sich richtig zu ernähren. Auf den Straßen Buenos Aires‘ ist diese Armut unübersehbar.
Als ich Argentinien bereiste, war von Widerstand wenig zu bemerken. Abgesehen von Protesten der Studierenden gegen Einsparungen im Universitätsbereich und kurzen Streiks im öffentlichen Verkehr zeigen die Argentinier noch geringen aktiven Protest gegen Mileis Kürzungspolitik. Doch es brodelt unter der Oberfläche und ein Funke könnte sich bald zum Flächenbrand entwickeln.
Das sieht auch Lucas Alfieri (27) von der linken Universitätsbewegung Movimiento Universitario de Izquierda, der Studierendenorganisation der Kommunistischen Partei Argentiniens (PCA), so: „Die Universität war einer der wenigen Sektoren, die der Regierung die Stirn geboten haben. Von der Arbeiterbewegung mit der (peronistischen, Anm. d. Red.) Gewerkschaft CGT fehlt bisher eine entsprechende Antwort. Wir erleben eine Reaktion der Rechten auf das Unvermögen des Staates, die grundlegenden Probleme der Menschen wie Ernährung, Wohnen und Arbeit zu lösen. Milei hat aufgrund dieser Krise mit einem Anti-System-Diskurs gewonnen. Nun erleben wir eine noch stärkere soziale Fragmentierung, die Proteste dagegen sind allerdings weitgehend isoliert. Das soziale Unbehagen ist vorhanden, aber derzeit nicht organisiert. Wir haben es leider auch mit einer Krise der Alternativen zu tun. Wenn diese Regierung aber ihre Politik nicht ändert und ihre Maßnahmen durchzieht, wird sie letztendlich mehr Feinde als Freunde haben und es wird zu sozialen Unruhen und zur nächsten institutionellen Krise kommen.”
Mein neuer Freund und Genosse Claudio Ottone von der kommunistischen Online-Zeitung „Nuestra Propuesta“ beschreibt die Situation in Argentinien metaphorisch: „Milei schüttelt die Champagnerflasche wie ein Wilder, es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Korken knallt.”
Meine Reise durch Argentinien führte mich unter anderem zu touristischen Hotspots wie den Wasserfällen von Iguazú und Moconá, nach Rosario, der Geburtsstadt von Ernesto Che Guevara, und schließlich von Cordoba über Mendoza nach Santiago de Chile.
Chile – die Rechte im Aufwind?
Seit dem Estallido social (sozialer Aufstand) von 2019/2020, der in die Bewegung für eine neue Verfassung mündete und in letzter Konsequenz bei den Präsidentschaftswahlen 2021 zum Sieg des jungen Präsidenten Gabriel Boric (38) führte, ist es um Chile relativ ruhig geworden – zumindest aus oberflächlicher Sicht von außen.
Kommt man mit politisch engagierten Menschen vor Ort ins Gespräch, spürt man den Unmut über die sozialen Spannungen in der Gesellschaft und die verlorenen Möglichkeiten, den chilenischen Staat nach der Diktatur (1973 bis 1990) weiter zu demokratisieren und zu erneuern. Der progressive Verfassungsentwurf wurde von 60 Prozent der Bevölkerung abgelehnt, jüngste Umfragen weisen Amtsinhaber Boric nur noch eine Zustimmung von 26 Prozent aus, während die konservative Herausforderin, Evelyn Matthei, auf 29 Prozent kommt. Das sind keine guten Vorzeichen für die Präsidentschaftswahlen am 16. November 2025.
Das Wiedererstarken der Rechten geht – wie so oft – mit der Schwäche der Linken einher. Das bunte Kabinett von Boric – offen homosexuelle Minister und erstmals in der Geschichte Chiles mehr Frauen als Männer – dürfte in der „woken“ Falle gelandet sein und (ehemals) linke Kernthemen – die soziale Frage! – vernachlässigt haben.
Meine Reise durch Chile führte mich von Santiago über San Felipe nach Valparaíso und danach Richtung Norden (La Serena, Copiapó, Antofagasta, Iquique). Ein Thema war dabei omnipräsent: Die Schatten der Vergangenheit. Wer Chile mit offen Augen bereist, stößt unweigerlich auf die zahlreichen Orte, wo zu Zeiten Pinochets gefoltert und ermordet wurde.
Bolivien – Innerlinke Spannungen?
Um viel über das fünfte Land meiner Reise zu erzählen, bin ich noch zu kurz in Bolivien. Von Iquique aus ging es am 25. Dezember mit dem Bus nach Oruro, einer traditionellen Bergbau-Stadt im Hochland des bolivianischen Andenmassivs, und am 27. Dezember weiter in die konstitutionelle Hauptstadt Sucre, wo ich den Jahreswechsel verbringe.
Eine zentrale Frage, die mich und viele lateinamerikanische Genossen, mit denen ich zusammengetroffen bin, jedoch schon länger in Bezug auf Bolivien begleitet, ist, wie man die Spannungen zwischen der aktuellen Regierung unter Präsident Luis Arce (seit November 2020) und dem ehemaligen Präsidenten Evo Morales Ayma (2006 bis 2019) einschätzen soll. Die einen meinen, es handle sich weitestgehend um einen persönlichen Konflikt und gekränkte Eitelkeiten, die anderen sehen hinter Evos Agieren die notwendige Kritik an einer zunehmend neoliberalen Wirtschaftspolitik Arces.
Vielleicht komme ich der Antwort bei meiner nächsten Station, in Cochabamba, ein Stück näher?
Wer die Reise unseres Autors mitverfolgen möchte und Genaueres zum Beispiel über die Geburtsstadt Che Guevaras oder die Spuren des Faschismus in Chile lesen möchte, kann dies tun im Reiseblog Lateinamerika unter alerta.media.