In Bolivien sollen die Indigenen wieder an den Rand der Gesellschaft gedrückt werden

Biedermänner und Putschisten

Von Manuela Tovar

Die bürgerlich-demokratische Maske des Staatsstreichs in Bolivien hielt nicht lange. Nachdem der sich seriös und liberal gebende Präsidentschaftskandidat Carlos Mesa nach den Wahlen vom 20. Oktober und den darauf folgenden Protesten gegen einen angeblichen Wahlbetrug seine Schuldigkeit getan hatte, haben inzwischen offen klerikal-faschistische Kräfte das Sagen in Bolivien übernommen. Das hatte sich bereits direkt am Tag des Staatsstreichs, dem 10. November, abgezeichnet, als einer der führenden Putschisten, Luis Fernando Camacho, demonstrativ den Präsidentenpalast in La Paz betrat und dort neben der bolivianischen Trikolore und einer Bibel zum Gebet niederkniete. Anschließend verkündete er, dass „Gott in den Palast zurückgekehrt“ sei und nun wieder Bolivien regieren werde. Die Pachamama, die von den Indígenas verehrte Mutter Erde, werde nie wieder zurückkehren, fügte er hinzu.

Auch Jeanine Áñez, die sich am 12. November selbst zur Übergangspräsidentin ausrief, obwohl das Parlament nicht beschlussfähig war, präsentierte sogleich, wes Geistes Kind sie ist. Nicht nur eine, sondern gleich zwei Bibeln nutzte sie, um sich höheren Beistands zu versichern. Die Dame hatte in vergangenen Jahren der indigenen Bevölkerungsmehrheit schon „satanische Riten“ vorgeworfen und sie aus den Städten Boliviens verbannen wollen. Für den gestürzten Präsidenten Evo Morales hatte sie ebenfalls nur rassistische Beschimpfungen übrig.

Wenige Tage nach ihrer Selbsternennung unterzeichnete Frau Áñez ein Dekret, das Soldaten und Polizisten von jeder Strafverfolgung ausschließt, wenn sie zur „Aufrechterhaltung der Ordnung“ zur Schusswaffe greifen. Von den Uniformierten wurde das als Freibrief verstanden. Allein am 15. November wurden in Cochabamba neun Teilnehmer einer friedlichen Großdemonstration von den Einsatzkräften erschossen, insgesamt stieg die Zahl der Todesopfer des Staatsstreichs bis zum vergangenen Wochenende auf 24.

Álvaro García Linera, der mit Evo Morales gestürzte Vizepräsident Boliviens, analysierte am 16. November in einem Aufsatz für das lateinamerikanische geopolitische Forschungsinstitut CELAG den Rassismus der „traditionellen Mittelschichten“ Boliviens. Er sieht einen Grund für dessen Erstarken in den Entwicklungen der vergangenen 14 Jahre, als es unter der Regierung Morales gelang, die extreme Armut von 38 auf 15 Prozent zu reduzieren und den Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Sozialversicherungsleistungen für alle Teile der Bevölkerung zu gewährleisten. Waren früher die höchsten Gehälter des Landes 130 Mal höher als die niedrigsten, waren es zuletzt nur noch 45 Mal. Dadurch konnten viele Menschen einen bescheidenen Wohlstand erlangen, der Anteil der am Einkommen gemessenen „Mittelschicht“ an der Gesamtbevölkerung stieg von 35 auf 60 Prozent, wobei die „neue Mittelklasse“ in erster Linie aus früher ausgegrenzten, indigenen Volksschichten bestand.

„Wir haben es mit einem Prozess der Demokratisierung des sozialen Wohlstands durch den Aufbau materieller Gleichheit zu tun“, so García Linera. Dessen Folge sei jedoch gewesen, dass das soziale Kapital der traditionellen Mittelschichten auf ökonomischer, politischer und Bildungsebene zurückgegangen sei. Was alle haben, ist kein Privileg mehr: „Wenn früher ein großer Name, monopolisiertes Wissen oder Beziehungen der ebenfalls aus den traditionellen Mittelschichten stammenden Eltern ausreichten, um Posten in der öffentlichen Verwaltung, Kredite, Arbeitsaufträge oder Stipendien zu bekommen, hat sich heute die Menge der Leute, die sich um denselben Posten oder die gleiche Chance bewerben, vervielfacht“, so der gestürzte Vizepräsident. Hinzu komme, dass die „neuen“ gegenüber den früher privilegierten Kandidaten über Kenntnisse und Kontakte verfügten, die für sie einen Wettbewerbsvorteil darstellen, etwa das Beherrschen einer indigenen Sprache oder die Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft. Es habe sich um einen Zusammenbruch der „kolonialen Gesellschaft“ gehandelt, in der die ethnische Herkunft über die Zugehörigkeit zur Klasse entschieden habe.

„Der Rassenhass kann nur zerstören“, so García Linera abschließend. „Er ist nichts anderes als die primitive Rache einer historisch und moralisch im Niedergang begriffenen Klasse, die beweist, dass sich hinter jedem verlogenen Liberalen ein fertiger Putschist verbirgt.“

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"Biedermänner und Putschisten", UZ vom 22. November 2019



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