Der Kampf um die betriebliche Demokratie und der Zeitungsstreik von 1952

Betriebsräte an die Kette gelegt

Michael Henkes

Vor 70 Jahren, im Mai 1952, führte die westdeutsche IG Druck die letzte große Abwehrschlacht in einem schon verlorenen Kampf um die wirtschaftliche Neuordnung. Im Zeitungsstreik 1952 unterlag die westdeutsche Arbeiterbewegung im Kampf gegen ein reaktionäres Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG), dessen Kernelemente bis heute Bestand haben.

Dabei schien nach 1945 vieles möglich. In breiten Teilen der Bevölkerung, vor allem in der Arbeiterklasse, war die bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung diskreditiert. Vielen war mehr oder weniger klar, wer am Zweiten Weltkrieg gut verdient hatte. Es bedurfte keiner umfassenden ökonomischen und politischen Kenntnisse, um zu erkennen, dass diejenigen, die vor 1933 das große Geld hatten, es auch während des Krieges und danach besaßen. Vor allem der organisierten Arbeiterbewegung, repräsentiert durch KPD und SPD, war klar: Ein wirklicher Neuanfang war erforderlich – auch hinterm Werkstor. Dabei ging es nicht um eine sozialistische Revolution, sondern zunächst „nur“ um den Kampf um eine antifaschistische, antimonopolistische und demokratische Neuordnung Deutschlands – ganz im Sinne der Potsdamer Beschlüsse von 1945.

Auch wenn bundesrepublikanische Geschichtsbücher darüber oft kein Wort verlieren: In den 1940er- und 1950er Jahren war Westdeutschland ein Ort härtester Klassenauseinandersetzungen. Dabei ging es auch um die Mitbestimmung – wer hatte was in den Betrieben zu sagen? Eine entscheidende Frage, denn schließlich sind sie der Ort, an dem die kapitalistische Gesellschaft ihre materielle Basis schafft.

Unmittelbar nach dem Krieg übernahmen vielerorts die Arbeiter selbst die Kontrolle über die Betriebe und Schächte. Sie setzten dort die Produktion in Gang, wo Konzernherren das Weite gesucht hatten. Massenbewegungen forderten zeitgleich die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien bei weitreichender Mitbestimmung. Überhaupt wurde damals die Mitbestimmung immer in Verbindung mit den Eigentumsverhältnissen diskutiert. Schulter an Schulter kämpften organisierte Arbeiter der SPD und KPD gemeinsam mit unorganisierten. Allein im Ruhrgebiet streikten 50.000 Bergarbeiter. Es gelang ihnen, die Einbindung von Betriebsräten in Fragen der Produktion zu erkämpfen. Im Jahr 1947 kämpften 300.000 Arbeiter gegen Preissteigerung und Lohnverlust und für Mitbestimmung.

Die sich nach 1945 in Westdeutschland auf unterschiedlichsten Wegen neu formierenden Gewerkschaften hatten weitreichende Forderungen. So formulierte der Zweite Interzonenkongress der Gewerkschaften 1946: „Das Wohl der Werktätigen, die Sicherung des Friedens, die Freiheit der Persönlichkeit und die Demokratie können nur gesichert werden, wenn der Neuaufbau der deutschen Wirtschaft auf demokratischer Basis durch wirksamen, unmittelbaren Einfluss der Gewerkschaften und Betriebsräte erfolgt.“ Die oftmals aus dem angelsächsischen Exil zurückgekehrten und dort geschulten westdeutschen Gewerkschaftsführer betonten dabei die Notwendigkeit, mit dem Kapital zusammenzuarbeiten. Die Vergesellschaftungsforderungen an der Basis gingen darüber hinaus. Das spiegelte sich nicht nur in den bereits erwähnten Massenstreiks, sondern auch im Kampf um viele westdeutsche Landesverfassungen wider – es gelang, in einigen davon Artikel zur Verstaatlichung der Schlüsselindustrien oder das Verbot von Aussperrungen zu verankern. Im Kampf um die Mitbestimmung schien man in der Montanindustrie (Bergbau, Stahl) einen ersten Erfolg zu verbuchen. Die „Entflechtungen“ (faktisch Umgruppierungen) der Montankonzerne durch die Alliierten garantierten zugleich eine paritätische Besetzung der Aufsichtsräte mit Gewerkschaftsvertretern. Die Besatzungsmächte sahen in dieser „Mitbestimmung“ ein geeignetes taktisches Manöver, der zunehmend radikaler werdenden Arbeiterbewegung ein vertretbares Teilzugeständnis zu machen. An den Eigentumsverhältnissen rüttelte es nicht – die Verstaatlichung blieb aus.

Zurückdrängung der Reformkämpfe

Bis 1948 konnte die Arbeiterbewegung zwar keine antimonopolistische und demokratische Neuordnung erreichen, doch der Kampf um Reformen führte zu einer Massenmobilisierung. Die Arbeiter organisierten sich – allein die KPD verzeichnete 1947 in den Westzonen über 320.000 Mitglieder.

Mit der zunehmenden Konfrontationspolitik der Westalliierten gegenüber der Sowjetunion bei gleichzeitiger Restauration des deutschen Kapitalismus als „Prellbock“ verloren die Kämpfe um wirtschaftliche Neuordnung an Boden. Hinzu kam die Integration führender Vertreter der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung: Mit der Akzeptanz des Marshallplans Mitte 1948 durch die westdeutsche Gewerkschaftsführung geriet die Arbeiterbewegung in die Defensive. Der Marshallplan stärkte den Einfluss der US-Monopole auf die westdeutsche Wirtschaft und Politik enorm. Im Herbst 1948 erklärten US-amerikanische und britische Besatzungsbehörden Gesetze und Paragrafen in Landesverfassungen, welche die Mitbestimmung oder Verstaatlichung regelten, für unwirksam. Die Gewerkschaften protestierten gegen diesen Angriff durch die Besatzungsmächte – verzichteten aber in dieser entscheidenden Phase auf den Einsatz ihrer enormen organisatorischen Stärke. Über die zunehmende Schwäche der Arbeiterbewegung, vor allem der Gewerkschaften, kann auch ein großes Aufbäumen im Herbst 1948 nicht hinwegtäuschen: Die als erster Schritt der deutschen Teilung erfolgte „Währungsreform“ in den westlichen Besatzungszonen führte zu Preissteigerungen und vernichtete die wenigen Ersparnisse der Werktätigen. Die Gewerkschaften forderten eine Preiskontrolle. Diesen Eingriff in die „soziale Marktwirtschaft“ lehnten die Besatzungsbehörden und der deutsche Wirtschaftsrat brüsk ab. Daraufhin bekräftigten die Gewerkschaften ihre Forderung nach Lastenausgleich, Preiskontrolle und weitreichender Mitbestimmung. Sie organisierten einen Generalstreik – den größten Streik seit dem Kapp-Putsch. Von etwa elf Millionen Beschäftigten der Bizone (die französische Besatzungszone blieb wegen eines Streikverbots außen vor) streikten neun Millionen. Ohne Teil einer längerfristigen Strategie zur Durchsetzung der aufgestellten Forderungen zu sein, verpuffte der Generalstreik – trotz der durch ihn bekundeten Stärke der Gewerkschaften.

Veränderte Kampfbedingungen

Die westdeutsche Arbeiterbewegung gab den Kampf um betriebliche Demokratie nicht auf. Während das Grundgesetz der 1949 gegründeten BRD keinerlei Bestimmungen zur betrieblichen Demokratie enthielt, tat dies das „Münchener Programm“ des im Oktober 1949 gegründeten Deutschen Gewerkschaftsbundes sehr wohl. Frank Deppe charakterisierte das „Münchener Programm“ als eine Konzeption einer Gesellschaft, „in der die ökonomische und politische Machtbasis des Großkapitals zerbrochen“ und „die Demokratisierung durch Mitbestimmung in allen gesellschaftlichen Bereichen vorangetrieben“ sei. Die dort skizzierte Gesellschaftsordnung war beileibe keine sozialistische Ordnung. Sie war vielmehr jener „Wirtschaftsdemokratie“ ähnlich, die Gewerkschafter, SPD und christliche Soziallehre bereits in der Weimarer Republik anstrebten. Für die westdeutschen Monopole und ihre Verbündeten war sie gleichwohl inakzeptabel. Sie wollten weitermachen wie gehabt und waren nur bereit, einen neuen Werbeslogan zuzulassen: die „soziale Marktwirtschaft“. Im Kampf um die demokratische Mitbestimmung in den Betrieben zeigte sich dies exemplarisch. Mit der Gründung der BRD stand die Debatte wieder auf der Tagesordnung. Die Adenauer-Regierung war ihrerseits nicht interessiert, Zugeständnisse zu machen – schließlich erforderte der „Kalte Krieg“ Ruhe an der Heimatfront. Im Juli 1950 wurden die Gespräche um die „Neuordnung“ abgebrochen. Als die IG Metall und die IG Bergbau 1950/51 in Urabstimmungen ihre Kampfbereitschaft signalisierten, kam es zum Kompromiss: Der Bundestag verabschiedete im April 1951 das Gesetz über die Montanmitbestimmung: Es wurde festgeschrieben, dass in Montankonzernen mit über 1.000 Beschäftigten der Aufsichtsrat zur Hälfte aus „Arbeitnehmervertretern“ bestehen musste (ohne Doppelstimmrecht der Kapitalvertreter, also „volle Parität“) – doch war von demokratischer Produktionsplanung und Verstaatlichung nicht mehr die Rede. Die bisherige Verknüpfung von Mitbestimmung und Eigentumsfrage wurde aufgebrochen. Die betriebliche Mitbestimmung wird durch die Unantastbarkeit der Eigentumsordnung enorm eingeschränkt. Die Forderungen des „Münchener Programms“ waren unter diesen rechtlichen Rahmenbedingungen nicht umsetzbar.

Betriebsräte an die Kette gelegt

1710 Maikundgebung 1947 in Essen. Quelle Publikation Mitbestimmung im Zeichen von Kohle und Stahl - Betriebsräte an die Kette gelegt - Arbeitskämpfe, Betriebliche Kämpfe, Betriebsräte, Geschichte der Arbeiterbewegung - Theorie & Geschichte
Im Kampf für mehr Mitbestimmung – Mai-Kundgebung 1947 in Essen (Foto: Gemeinfrei)

Die Reaktion war sich der zunehmenden Schwäche der Arbeiterbewegung bewusst. Das schließlich von der Adenauer-Regierung vorgeschlagene Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) fiel hinter das Betriebsrätegesetz von 1920 zurück. Es atmete den Geist der „Volks- und Betriebsgemeinschaft“ der faschistischen Ideologie, wie der Vorsitzende der IG Metall, Otto Brenner, kritisierte. Für die Faschisten war jeder Betrieb eine Zelle im großen Volkskörper, in der es keine widerstreitenden Interessen gebe – etwas, das selbst die „Sozialpartnerschaft“ zur Voraussetzung hat. Die Interessen des Betriebs (also des Kapitals) sind die Interessen aller.

Das Gesetz verweigerte die paritätische Mitbestimmung in den Aufsichtsräten, zudem war der gesamte öffentliche Dienst aus seinem Geltungsbereich ausgeschlossen. Es schrieb ebenso eine Trennung von Gewerkschaften und Betriebsrat vor – eine Trennung, die gleichbedeutend war mit einer „Verbetrieblichung“ der Kampfperspektiven, eine Trennung von „betrieblichen Angelegenheiten“ von gesamtgesellschaftlichen Kämpfen, die schließlich auch die Aufgabe von Gewerkschaften sind oder sein sollten. Das BetrVG von 1952 zwang die Betriebsräte nicht nur zu einer auf das „Wohl des Betriebs“ ausgerichteten Arbeit. Es verbot dem Betriebsrat vielmehr jedwede Tätigkeit, die geeignet sei, „die Arbeit und den Frieden des Betriebs zu gefährden“. Die Mitbestimmungsrechte beschränkten sich im Wesentlichen auf „soziale Angelegenheiten“. Um es noch einmal zu betonen: Der Kernbestand dieses reaktionären Gesetzes gilt bis heute. Dass die DGB-Gewerkschaften in vielen Betriebsräten die Mehrheit innehaben, hebt die vom BetrVG festgelegte Trennung beider nicht auf – weder juristisch noch politisch. Die häufig gegensätzlichen Positionen von Betriebsräten und Gewerkschaften zeigten sich etwa bei Opel Bochum oder als die Betriebsräte der Autokonzerne Anfang der 2000er Jahre die Streiks der IG Metall für die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland abwürgten.

Der Zeitungsstreik und seine Folgen

Als die Pläne der Regierung öffentlich wurden, rief der DGB zu Protestkundgebungen auf. Über 350.000 Werktätige beteiligten sich. Im Mai 1952 rief die IG Druck zum Zeitungsstreik auf – bundesweit standen die Druckerpressen still. Im Anschluss war von einem „Angriff auf die Pressefreiheit“ und „kommunistischen Umsturzversuchen“ die Rede, auch eine strafrechtliche Verfolgung der Gewerkschaftsfunktionäre wurde in Betracht gezogen. Unter dem öffentlichen Druck und angesichts der von Adenauer gemachten Gesprächsangebote stellte der DGB im Juni 1952 alle Kampfaktionen und Proteste ein. Mitte Juni wurde der DGB-Führung klar, dass die Verhandlungen mit Adenauer ergebnislos bleiben würden – nun aber fand sich in der Spitze keine Mehrheit mehr für Kampfaktionen. Im Juli 1952 schließlich wurde das BetrVG verabschiedet.

Dieses Scheitern im Kampf um die Neuordnung war total. Die DGB-Führung fand sich resignativ mit dem Gesetz ab und begrub damit faktisch das „Münchener Programm“ vollends. Das später folgende Personalvertretungsgesetz für den öffentlichen Dienst war nicht weniger reaktionär. Obendrein folgte 1955 ein wegweisendes Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum Zeitungsstreik 1952: Die Verleger hatten die IG Druck nach dem Streik auf Schadensersatz verklagt, da sie den Streik als nicht rechtens bewerteten. Das Bundesarbeitsgericht folgte in seinem Urteil dieser Auffassung. Damit wurde die Sichtweise konservativer bis faschistischer Rechtsideologen, für die ein Streik „sozialadäquat“ zu sein hat, durchgesetzt. Das bedeutet, dass ein Streik sich nur auf die zwischen „Arbeitnehmern“ und „Arbeitgebern“ regelbaren Forderungen beziehen darf. Dieses Urteil begründet bis heute das „Verbot“ von politischen Streiks in Deutschland, obwohl es mehr als nur begründete Zweifel gibt, ob dieses „Verbot“ selbst mit bürgerlichem Recht (etwa mit der Europäischen Sozialcharta) vereinbar ist. Der marxistische Politikwissenschaftler und Verfassungsrechtler Wolfgang Abendroth beurteilte „politische Streiks“ als rechtens im Sinne des Grundgesetzes – sie brächten den zuständigen Gesetzesorganen gegenüber „nachdrücklich“ die „innere Einstellung der Arbeitnehmer“ zum Ausdruck.

Diese Niederlage beschränkt die Wirkmächtigkeit der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterbewegung bis heute. Sie ist das Ergebnis einer spätestens 1948 einsetzenden Defensivphase der Arbeiterbewegung in Westdeutschland, die auch mit gesteigertem Antikommunismus zusammenhängt. Fortan war an eine antimonopolistische und demokratische Neuordnung nicht mehr zu denken.

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"Betriebsräte an die Kette gelegt", UZ vom 29. April 2022



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