Der russische Außenminister Sergej Lawrow war auf Südamerika-Tour. Die Länder Brasilien, Venezuela, Nicaragua und Kuba standen auf seinem Programm. Zu Nicaragua und Kuba bestanden schon zu Sowjetzeiten gute Verbindungen auf Basis des proletarischen Internationalismus, aber auch zu den Erdölstaaten Brasilien und vor allem Venezuela hatte die russische Diplomatie gute Beziehungen aufgebaut. Bekanntlich betrachtet Washington Lateinamerika seit zwei Jahrhunderten als seinen Hinterhof, in den man gelegentlich auch seine Truppen schickt. Entsprechend arrogant und bevormundend sieht die US-Politik auch heute gegenüber diesen Staaten aus. Venezuela wurde das Ziel massiver US-Sanktionen und Regime-Change-Operationen, Kuba und Nicaragua kennen diese US-Aggressionen schon seit Langem.
Im letzten Jahr hat sich die Lage allerdings radikal geändert. Die US-geführte NATO hat unterhalb der Schwelle der Entsendung eigener Truppenkontingente alles aufgeboten, was militärisch, monetär und ökonomisch zur Verfügung steht, um mit der seit acht Jahren massiv aufgerüsteten ukrainischen Stellvertreterarmee die Russische Föderation in die Knie zu zwingen – ohne Erfolg. Im Gegenteil, vor allem Europa leidet massiv unter dem eigenen hybriden Krieg. Diese Entwicklung ist in den Ländern des Globalen Südens, natürlich auch in Lateinamerika, aufmerksam registriert worden. Wenn der „Einzigen Weltmacht“ die Kräfte schwinden, ist auch für sie eine zunehmend eigenständigere Politik möglich. Deutlicher Ausdruck dieser neuen Situation war der dreitägige Besuch von Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva in Peking. Brasilien, aber auch andere Staaten des amerikanischen Südens orientieren sich neu in Richtung Eurasien – hin zur Shanghai Cooperation Organisation (SCO), der Belt and Road Initiative (BRI) und nicht zuletzt zu den BRICS-Staaten. Der Besuch Lawrows war vor allem ein politisches Signal: Auch der US-amerikanische „Hinterhof“ lässt sich nicht in den hybriden Krieg gegen die Russische Föderation einspannen. Russland ist im Globalen Süden das Symbol für erfolgreichen Widerstand. Nicht Russland, sondern der „Kollektive Westen“ und seine Kriegsmaschine NATO sind dort isoliert.
21 lateinamerikanische Staaten haben sich der Belt and Road Initiative angeschlossen. Der China-Lateinamerika-Handel ist von 18 Milliarden US-Dollar im Jahr 2002 auf 450 Milliarden 2021 geradezu explodiert. China hatte bis 2021 in lateinamerikanische Industrie- und Infrastrukturprojekte 450 Milliarden US-Dollar direkt investiert. Auch die russische Präsenz in der Region, insbesondere in den nun von Lawrow besuchten Staaten, ist nach dem Absturz in den Jelzin-Jahren beständig gewachsen. Russland ist hier ökonomisch mit Krediten sowie mit Infrastrukturprojekten, Projekten der atomaren Energieerzeugung – wie in Mexiko, Brasilien, Argentinien oder Bolivien – und der Fossilenergieförderung wie in Mexiko oder Venezuela engagiert. Russland griff Venezuela mit einem Petro-Direktinvestment von neun Milliarden US-Dollar unter die Arme. Insgesamt exportierte Russland 2022 14,28 Millionen Barrel an Petro-Raffinerieprodukten nach Lateinamerika. Daneben gab es wichtige Unterstützung in der Corona-Phase. Russland exportierte seinen Impfstoff Sputnik V und/oder produzierte ihn vor Ort. Schließlich gibt es auch eine wichtige sicherheitspolitische Komponente: In vielen lateinamerikanischen Staaten gibt es eine Station der russischen GPS-Variante Glonass. Die Produkte der russischen Militärindustrie werden geschätzt, teilweise ist auch die Wagner-Organisation vertreten und es gibt die Möglichkeit zur Nutzung militärischer Infrastruktur – Häfen, Flugplätze und Trainingszentren – durch das russische Militär.
Noch sind die US-amerikanischen Einflussstrukturen in Lateinamerika sehr stark, aber die Präsenz der Länder der Eurasischen Kooperation holt schnell auf. Gegenwärtig steht die BRICS-Organisation vor einer massiven Erweiterungswelle – von über 20 Anwärtern ist die Rede, auch das lateinamerikanische Schwergewicht Argentinien ist dabei. Schon jetzt haben die BRICS-Staaten die G7 an ökonomischer Kraft überrundet. Eine neue, erweiterte BRICS-Plus dürfte den „Kollektiven Westen“, der sich immer noch als Nabel der Welt betrachtet, weit in den Schatten stellen und eine wirkliche globale, pragmatische und gleichberechtigte ökonomische und politische Kooperation ermöglichen. Zumindest gibt es die reale Chance dazu. Das ist mehr, als seit Jahrhunderten möglich war.