Nach dem Abzug der US-Truppen braucht Afghanistan keine neuen EU-Soldaten, sondern Hilfe beim Wiederaufbau

Bessere Zukunft oder weitere Besatzung?

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Die letzten US-Soldaten waren noch nicht ganz von ihren Posten in Afghanistan abgezogen, da wollen Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der britische Premier Boris Johnson schon neue EU-Truppen nach Kabul entsenden – zur Einrichtung einer „humanitären Schutzzone“, aus der heraus vom Westen ausgewählte Afghanen ausgeflogen werden können. Die Bundeswehr könnte daran nach der jüngsten Entschließung des Bundestages vom 25. August ohne weitere Befassung des Parlaments beteiligt werden. Der beschlossene „Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan“ ist mindestens bis Ende September mandatiert und kann auf das ganze Land ausgeweitet werden.

Da hilft es auch nichts, dass die Taliban mittlerweile rund 100 Ländern die Zusicherung gegeben haben, dass nach dem US-Truppenabzug alle Ausländer sowie alle Afghanen, die von den betroffenen Ländern eine Reisegenehmigung erhalten haben, das Land „auf sichere und geregelte Weise“ verlassen könnten. Zu den Unterzeichnern gehören unter anderem die USA, Deutschland, Frankreich, Britannien, die EU und die NATO, die verantwortlich sind für die Zerstörungen und Hunderttausende Tote und Verletzte in dem seit 2001 andauernden Krieg. Taliban-Sprecher Sabihullah Mudschahid mahnte gleichwohl mit Blick auf den Exodus von Fachkräften wie Ärzten und Ingenieuren: „Sie sollten die Afghanen nicht ermutigen, aus Afghanistan zu fliehen.“ Das Land brauche deren Expertise, „sie sollten nicht in andere Länder gebracht werden“. Die Weltgesundheitsorganisation WHO warnte bereits, Afghanistan drohe bald ein Engpass bei medizinischem Material, man prüfe alle Möglichkeiten, mehr Medikamente ins Land zu bringen. Ein Problem sei, dass viele medizinische Fachkräfte das Land verließen, Ärztinnen und Pfleger­innen trauten sich unter den neuen Herrschern nicht mehr zur Arbeit.
Klar ist, dass unter dem fortgesetzten Exodus vornehmlich gebildeter und gutsituierter Afghanen der Aufbau des Landes in Abwesenheit ausländischer Besatzungskräfte massiv erschwert und verlangsamt wird. Die Situation erinnert fatal an Syrien, dessen Ärzte angesichts von Krieg und Perspektivlosigkeit in den vergangenen Jahren ihren Kliniken und Patienten den Rücken gekehrt haben. Die gleichzeitig verhängte Wirtschaftsblockade verhindert den Wiederaufbau und hält Syrien in Agonie.

Wer Land und Leute aus eigener Anschauung kennt und vor Ort arbeitet, kommt zu einem wesentlich differenzierteren Blick als diejenigen in Washington, Brüssel und Berlin, die ihre verbrecherische Kriegspolitik zu rechtfertigen suchen. Das gilt für Syrien wie für Afghanistan. Der Gründer der „Kinderhilfe Afghanistan“, Reinhard Erös, etwa wird nicht müde, für eine bessere Zukunft des umkämpften Landes zu werben. Wegen der Besetzung Afghanistans hatte Erös vor 20 Jahren die Bundeswehr verlassen. Seine private Hilfsorganisation betreibt den Angaben zufolge 30 Schulen mit rund 60.000 Schülerinnen und Schülern sowie eine Universität mit gut 2.000 Studentinnen und Studenten. Führende Taliban hätten ihm zugesagt, dass alle Schulen weiter offen blieben, auch für Mädchen und Lehrerinnen. Ein Grund sei, dass in dem Land Ärztinnen dringend gebraucht würden, weil unter den Regeln der Scharia nur sie Frauen untersuchen dürften. „Angst vor den Taliban hat von unseren Mitarbeitern keiner“, so Erös. Der Exsoldat konstatiert, was hierzulande nur wenige hören wollen: Für die einfachen Menschen in den Dörfern werde „das Leben jetzt einfacher, weil die ständigen Bombardierungen, Drohnenangriffe und Anschläge endlich vorbei sind“. Dennoch müsse mit einer großen Fluchtbewegung gerechnet werden. „Die Frage ist, ob die neuen Machthaber zulassen, dass die Bildungselite flieht.“ Die einfachen Leute, die bisher vor dem Krieg geflohen seien, hätten dagegen keinen Grund mehr wegzugehen. Erös erinnert im Interview mit „Welt-Sichten“, die „Horrormeldungen“ der letzten Tage vom Flughafen in Kabul „haben mit dem Rest von Kabul, wo ja vier Millionen Menschen leben, und vor allem mit dem Leben im Rest von Afghanistan, zumindest wie ich es von meinen Mitarbeitern erfahre, nichts zu tun. Und in vielen Gebieten, wo wir Schulen unterstützen, haben die Taliban längst das Sagen.“ Die Lage im Osten des Landes sei „sogar sicherer, weil dort nicht mehr gekämpft wird, weil dort keine amerikanischen Drohnen mehr Bomben abwerfen oder Dörfer beschießen, weil dort keine Minen mehr auf den Straßen verlegt werden und weil dort keine Selbstmordattentäter unterwegs sind. Endlich ist hoffentlich der Krieg vorbei. Dort wird die Zukunft, soweit sie vorhersehbar ist, besser sein als die letzten zwanzig Jahre.“

Erös ist weit davon entfernt, die islamistischen Gotteskrieger zu verharmlosen: „Zwischen 1996 und 2001 herrschte ein Terrorregime der Taliban: Alle Rechte, die wir im Westen für wesentlich halten, haben sie missachtet. Ich hätte dort nicht leben wollen.“ Trotzdem seien während des Talibanregimes nur ein paar Tausend Menschen geflohen, obwohl es möglich gewesen sei. „Davor, während der sowjetischen Besatzung und des Bürgerkriegs danach, und auch seit 2001/2002, nach dem Einmarsch des Westens, sind mehrere Millionen Afghanen geflohen. Die Idee vom Paradies, das entstanden ist, seit wir da sind, ist schlicht falsch. In den letzten zwanzig Jahren sind in Afghanistan circa 200.000 bis 300.000 Afghanen bei Kämpfen ums Leben gekommen, während der Talibanzeit viel weniger.“ Die totale Dämonisierung der Taliban und des Islamismus einerseits und die Glorifizierung der Gegenseite, der von der NATO installierten Regierung in Kabul, ist laut Erös „falsch“. „Afghanistan ist eines der korruptesten Länder geworden, seit der Westen dort einmarschiert ist. Die Taliban waren in den letzten Wochen und Monaten auch so erfolgreich, weil ein Großteil der Bevölkerung, vor allem in der Sprachgruppe der Paschtunen, sie unterstützt. Nicht weil man die Taliban besonders liebt, sondern weil die andere Seite, die korrupte, die mit dem Westen verbundene Seite, in ihren Augen nicht besser ist.“

Das passt freilich nicht ins Bild der Kriegsparteien in Deutschland. Die drei Kandidaten für die Nachfolge von Angela Merkel im Kanzleramt lassen keinen Zweifel, dass sie aus der Niederlage der NATO nach 20 Jahren Krieg in Afghanistan nur eines gelernt haben: Wer einen Krieg nicht verlieren will, braucht einfach noch mehr Waffen. Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock barmte am Sonntag, die Ausstattung der Bundeswehr sei ein „riesenfettes Problem“. Ihr Mitbewerber von der Union, Armin Laschet, will einen „Nationalen Sicherheitsrat“ im Bundeskanzleramt bilden und „Europa“ militärisch derart stärken, dass es einen Flughafen ohne Hilfe der USA sichern könne. Auch die Bundeswehr müsse besser ausgestattet werden, etwa mit bewaffneten Drohnen, was die SPD ja bisher ablehne – wenige Stunden zuvor waren in Kabul bei einem Einsatz von Killerdrohnen der USA neun Afghanen getötet worden, darunter örtlichen Medien zufolge sechs Kinder. Das ist in der Debatte freilich kein Thema. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz ist sogar stolz darauf, dass es in seiner Zeit als Bundesfinanzminister für die Bundeswehr „den größten Aufwuchs“ gegeben habe auf jetzt 50 Milliarden Euro. „Dafür habe ich mich sehr eingesetzt.“

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"Bessere Zukunft oder weitere Besatzung?", UZ vom 3. September 2021



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