„Warum es Deutschland so gut geht wie noch nie“, jubelt die „Welt“. „Kaum ein anderer Industriestaat hat sich mit Blick auf die eigene Zukunftsfähigkeit in den vergangenen zehn Jahren so positiv entwickelt. (…) Die großen Konkurrenten hat die Bundesrepublik damit derzeit klar abgehängt: Großbritannien zum Beispiel, die Brexit-Nation, liegt laut der Studie auf Platz neun. Frankreich, der wichtigste europäische Partner, rangiert auf Platz 18. Japan kommt auf 23, und die größte Volkswirtschaft der Welt, die USA, folgt sogar erst auf dem 26. Rang. Wann konnten die Deutschen jemals so hoffnungsvoll in die Zukunft blicken?“
Quelle für den Enthusiasmus des Springer-Blatts ist die neuste Auflage eines Projekts, das sich SGI (Sustainable Governance Indicators) nennt, aus dem Hause Bertelsmann. Die Bertelsmänner versprechen „nachhaltiges Regieren messen“ zu können. Und Springer hat uns die Ergebnisse schnell einmal näher gebracht. Platz 6 in der Gesamtwertung. Eins mit Sternchen, Fleißkärtchen für Frau Merkel und Herrn Schäuble. Die Welt kann so schön und auch so einfach sein.
Bei den Bertelsmännern liest sich das ein wenig differenzierter. Natürlich interessiert auch hier keine qualitative politökonomische Analyse der weit weniger erbaulichen Wirklichkeit und schon gar nicht, was die Brexit-geneigten Regierten von den Nachhaltigkeitserfolgen ihrer Regierenden halten. Der Sinn des „Messens“ ist schließlich ein pädagogischer. Die „Indikatoren“ sind so gewählt, dass das politische Personal die Stimme ihrer Herren (und Damen) klar vernehmen und wissen kann, woran es ist. Positive Verstärkung ist die eine Sache, erzieherische Strenge die andere. In einer Welt der kapitalistischen Konkurrenz gibt es ein Ranking nicht nur für Topmodels, Superstars oder Dschungelköniginnen, sondern selbstredend auch für die politische „Elite“ oder die, die es werden wollen. Nicht auszuschließen, dass SGI den hauseigenen Sender RTL noch auf Ideen bringt.
„Deutschland ist gut gerüstet, aber wie lange noch?“ (SGI) der drohende Unterton heißt soviel wie: gut ist noch lange nicht gut genug. „Überraschend mäßig schneidet Deutschland bei der Vermeidung von Armut und sozialer Ausgrenzung ab (21. Platz) – der guten Wirtschafts- und Beschäftigungslage zum Trotz. Das Armutsrisiko hat sich sogar wieder leicht erhöht. Insbesondere Alleinerziehende sind überproportional von Armut betroffen.“ Das erstaunt dann doch. Nicht, dass die Thematisierung von sozialer Ungleichheit – nach Thomas Piketty – ein Tabuthema wäre. So etwas bestreitet eigentlich nur noch die neoliberale Rambo-Fraktion vom Kaliber einer Dorothea Siems („Welt“) oder Heike Göbel („FAZ“). Selbst der Chef des DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) Marcel Fratzscher erklärt im „Zeit“-Interview, er habe „ein Problem damit, dass die unteren 40 Prozent abgehängt werden.“ Und es gebe „inzwischen in der Wissenschaft einen breiten internationalen Konsens, dass die heutige Ungleichheit in Deutschland zu hoch ist und einen massiven wirtschaftlichen Schaden verursacht.“
Nein, wirklich erstaunlich ist die Fähigkeit, diese gar nicht einmal so falsche (Teil-)Zustandsbeschreibung im selben Text beispielsweise mit einer Polemik gegen die „Rente mit 63“ zusammenzubringen. Sie „weiche die Strukturreformen der letzten Jahre auf und sei ein falsches Signal, auch weil sie zu Lasten jüngerer Generationen gehe.“ (SGI) Das gleiche Kunststück schafft Fratzscher übrigens auch. Nun muss man keine Lanze für diese Werbenummer der Großen Koalition „Rente mit 63“ brechen, dieser Etikettenschwindel bremst die Rente mit 67 ja nur auf Zeit und nur für sehr wenige etwas ab. Aber klar, selbst so etwas ist für die Bertelsmänner, welche ja die Rente mit 67, 70, 75 oder, durch BDI-Präsident Ulrich Grillo jüngst verkündet, mit 85 quasi erfunden haben, „das falsche Signal“. „Bei diesem Indikator verschlechtert sich Deutschland im Vergleich zu 2014 um zehn Plätze auf Rang 30.“ (SGI)
„Wenn es darum geht, einer Bevölkerungsgruppe heute etwas zu geben und so künftige Generationen zu belasten, dann ist es die Fortsetzung der falschen Politik der letzten 40 Jahre: immer mehr Umverteilung, immer mehr soziale Leistungen.“ (Fratzscher) Das muss man heute als bürgerlicher „Vordenker“ schon bringen: die Opfer des eigenen, neoliberalen Kreuzzuges beklagen, sie dem geschlagenen alten „rheinischen“ Kapitalismus anlasten und dann genau die Rezepte als Lösung vorschlagen, welche diese Verwüstungen hervorgebracht haben. Und da sage einer, die bürgerliche Politökonomie habe ihr kreatives Potential verloren.