Staatliche Zensur dank unbewiesener Behauptungen des bayerischen Geheimdienstes

Berlin kuscht

Von Ulrich Sander

Der Organisation des – laut Bundesentschädigungsgesetz – „aus Überzeugung oder um des Glaubens oder des Gewissens willen gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft geleisteten Widerstands“, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) entzog ein Berliner Finanzamt die Gemeinnützigkeit. Dies mit der Begründung, die VVN-BdA sei vom Verfassungsschutz in Bayern zur „linksextremistischen“ und somit verfassungsfeindlichen Vereinigung erklärt worden. Berlins Finanzverwaltung verlangt aufgrund dieser Erklärung Zigtausende Euro Steuern von der VVN-BdA.

Die Behörde des rot-rot-grünen Senats behauptet, sie sei zu der Maßnahme gegen die VVN-BdA verpflichtet, weil die VVN-BdA im bayerischen Verfassungsschutzbericht erwähnt wird. Ansonsten steht sie in keinem weiteren. Die Hauptstadt hat sich nach den Weisungen eines bayerischen Regionalgeheimdienstes zu richten? Das Finanzamt formuliert keinerlei Begründung außer dem Verweis auf Bayern.

Und was steht nun im bayerischen Verfassungsschutzbericht? In den beiden genannten Verfassungsschutzberichten von 2016 und 2017 heißt es: „Vielmehr werden (von der VVN-BdA) alle nicht-marxistischen Systeme – also auch die parlamentarische Demokratie – als potenziell faschistisch, zumindest aber als eine Vorstufe zum Faschismus betrachtet, die es zu bekämpfen gilt.“ Belege werden für die Behauptung nicht aufgeführt. Es gibt keinerlei Veröffentlichung (und auch keine unveröffentlichten Beschlüsse) eines Vertretungsorgans der VVN-BdA, in dem die parlamentarische Demokratie als „potenziell faschistisch, zumindest aber als Vorstufe zum Faschismus“ betrachtet wird. Ein Vertreter der VVN-BdA erklärte gegenüber dem Finanzamt: „Wir sind gerne bereit, regelmäßige Publikationen der Steuerpflichtigen aus fünf Jahren (2013 bis 2017) oder auch mehr vorzulegen, damit sich der Sachbearbeiter beim Finanzamt selbst davon überzeugen kann, dass die Behauptung über das Verhältnis der VVN-BdA zur parlamentarischen Demokratie frei erfunden ist.“ Die VVN-BdA tritt hingegen für die Menschenrechte und die Grundrechte aus der Verfassung ein. Sie steht auf dem Boden des Grundgesetzes.

Auch im neuen VS-Bericht findet sich nichts, was die angebliche Ablehnung des parlamentarischen Systems durch die VVN-BdA begründen könnte. Es wird dort zunächst ein Zitat aus einem Artikel von mir, der in der UZ vom 31. März 2017 erschienen ist, wiedergegeben: „In dieser Situation ist von breitesten Bündnissen der Blick auf unsere deutsche Verantwortung vor der Geschichte zu richten: Abrüstung und kein Krieg von deutschem Boden aus, kein Ramstein, kein Kalkar, keine Speerspitze im Münsterland. Zutreffend die VVN-BdA-Losung mit Blick auf den Hauptfeind im eigenen Land: ‚Deutsche Großmachtträume platzen lassen‘.“

Sodann wird das Zitat kommentiert: „Damit bezieht sich Sander auf eine Schrift von Karl Liebknecht, wonach die Hauptgefahr für den Frieden vom deutschen Militarismus ausgehe, weshalb der Hauptfeind im eigenen Land stehe. Die Veröffentlichung des Artikels der VVN-BdA in der Zeitung ‚UZ‘ verdeutlicht die Akzeptanz und ideologische Nähe der VVN-BdA zur DKP.“

Ich stimmte in meinem Beitrag der altbekannten These zu, dass die Antikriegsbewegung die Verantwortung für das Geschehen im eigenen Land trägt und sich nicht mit den nationalistischen Kräften des eigenen Landes gemein macht, die gegen andere Länder ins Horn stoßen. Was die Einschätzung, dass man die Schuld nicht auf andere abwälzen sollte, mit einer Bekämpfung der parlamentarischen Demokratie zu tun haben soll, ist völlig irrig. Der bayerische VS bringt es fertig, eine Beziehung dieses Grundsatzes zu Karl Liebknecht herzustellen und diesen zu verunglimpfen, der bekanntlich vor etwas mehr als 100 Jahren von den selben rechten Kräften ermordet wurde, die heute noch ihr Unwesen treiben. Die Losung vom Hauptfeind gab Liebknecht im Jahre 1915 aus, zu einem Zeitpunkt, in dem es keine Demokratie gab, sondern eine die Freiheitsrechte und Menschenrechte unterdrückende Kaiserherrschaft und Militärdiktatur. Im Landesamt für Verfassungsschutz in Bayern ist man offenbar der Auffassung, die Menschen hätten sich im Jahre 1915 nicht gegen den auch von deutschen Kräften entfesselten Krieg wehren dürfen, sondern seine Nachbarvölker mit Krieg überziehen sollen. Jeder, der nicht dieser Meinung ist, sei ein Linksextremist.

Mitglieder der VVN-BdA wurden und werden vielfach öffentlich geehrt. All die Ehrungen gelten also einer verfassungsfeindlichen Organisation? Und auch die Welle von Solidaritätsschreiben an die VVN-BdA, das positive Medienecho zugunsten des Antifaschismus der VVN-BdA bekunden: Die VVN-BdA ist gemeinnützig wie der gesamte Antifaschismus.

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"Berlin kuscht", UZ vom 6. Dezember 2019



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