Die US-Regierung gestattet den Beschuss russischen Territoriums mit weitreichenden US-Raketen und riskiert damit eine unkontrollierbare Kriegseskalation sowie das Ende der gerade erst in Schwung gekommenen Verhandlungsbemühungen. US-Präsident Joe Biden hat Kiew am gestrigen Sonntag im Rahmen der Kämpfe um das russische Gebiet Kursk Angriffe mit ATACMS-Raketen erlaubt. In den Tagen zuvor hatten sich Berichte verdichtet, denen zufolge eine Bereitschaft zu Gesprächen über einen Waffenstillstand bei einigen westeuropäischen Staaten erkennbar war. Hintergrund war die desolate militärische Lage der Ukraine, die eine Kiewer Niederlage näher rücken lässt. Diese wird nach Überzeugung von US-Stellen auch durch die ATACMS-Raketen nicht verhindert. In einem aktuellen Beitrag in der New York Times heißt es, der Ukraine-Krieg sei „ein Stellvertreterkrieg“, in dem es darum gehe „unseren Feind zu schwächen, ohne ihn selbst direkt anzugehen“. Ex-Finanzminister Christian Lindner hat in den vergangenen Tagen mehrfach gefordert, Kiew jetzt Taurus-Raketen zu liefern. Die dafür notwendige Mehrheit im Bundestag, bestätigt Lindner, sei nach dem Bruch der Ampel-Koalition gegeben.
Vor der Niederlage
Militärisch spitzt sich die Lage für die Ukraine immer weiter zu. Die russischen Streitkräfte sind längst an mehreren Stellen der Front in der Offensive, rücken etwa bei Kupjansk, weiter südlich bei Kurachowe und im Gebiet Saporischschja systematisch vor. Zudem bereiten sie die Rückeroberung der noch ukrainisch besetzten Teile des Gebiets Kursk vor; dort sammeln sich, wie es heißt, Truppen mit einer Stärke von rund 50.000 Soldaten – darunter angeblich auch Nordkoreaner –, die die dort eingedrungenen ukrainischen Einheiten aus dem Land treiben sollen. Moskau setze alles daran, dies zu erreichen, um die ursprüngliche ukrainische Absicht zunichte zu machen, eroberte russische Territorien gegen von Russland eroberte ukrainische Gebiete tauschen zu können, heißt es. Das russische Militär habe zur Zeit die Initiative inne, räumt George Barros vom Washingtoner Institute for the Study of War (ISW) ein; es zwinge die ukrainischen Truppen, auf seine Vorstöße zu antworten. Sei man aber „dauerhaft in der Defensive“, dann „verliert man Kriege“, erläutert Barros: „Man wird in die Ecke gedrängt, und man muss aus einer Vielzahl schlechter Optionen etwas auswählen“. Nicht nur die lang-, auch die kurzfristigen Perspektiven für die Ukraine sind inzwischen desolat.
Mangel an Soldaten und Waffen
Dazu trägt nicht nur der Mangel an Rekruten bei. Die Ausfälle an der Front durch Tod oder Verwundung können nicht mehr wettgemacht werden, auch wenn die Rekrutierungsmethoden der ukrainischen Behörden längst Schlagzeilen machen: Immer häufiger wird von einer Jagd auf Männer im wehrfähigen Alter berichtet, die nicht mehr nur auf Straßen sowie öffentlichen Plätzen, sondern etwa auch auf Konzerten ergriffen oder aus ihren Autos gezerrt und zum Kriegsdienst verschleppt werden. Präsident Wolodymyr Selenski beklagt darüber hinaus, die von den Vereinigten Staaten zugesagten Waffen würden lediglich sporadisch und verspätet geliefert. So seien aufgrund bürokratischer oder auch logistischer Hindernisse bisher nur zehn Prozent des im April zugesagten Pakets im Wert von 61 Milliarden US-Dollar in der Ukraine eingetroffen. Unerwartete Schwierigkeiten gibt es bei der Lieferung von US-Drohnen, weil der US-Hersteller Skydio nach seiner Zusage, Taiwan im großen Stil zu beliefern, von Beijing mit Sanktionen belegt wurde. Skydio fehlen nun allerlei unverzichtbare Teile, die bislang in China beschafft wurden, so etwa Batterien. Adäquaten Ersatz werde man kaum vor dem Frühjahr 2025 finden, heißt es bei dem US-Unternehmen, das nicht nur das ukrainische Militär, sondern insbesondere auch die US-Streitkräfte beliefert.
Schäden maximieren
Mit Blick auf die desolate Lage werden zum einen erneut Forderungen laut, der Ukraine die Nutzung weitreichender westlicher Waffen für den Beschuss russischen Territoriums weit hinter der Front zu erlauben. So wiederholte Ex-Finanzminister Christian Lindner (FDP) am Mittwoch im Bundestag seine Forderung, „die Ukraine auch mit dem Waffensystem Taurus auszurüsten“; dazu gebe es „in diesem Parlament eine Mehrheit“, erklärte Lindner unter dem Beifall von Außenministerin Annalena Baerbock – ein Hinweis darauf, eine neue Koalition aus Union, FDP und Grünen könne eine Taurus-Lieferung jederzeit durchsetzen. Am gestrigen Sonntag erteilte US-Präsident Joe Biden der Ukraine tatsächlich die Genehmigung, US-amerikanische ATACMS-Raketen im Kampf um das russische Gebiet Kursk einzusetzen. Davon erhoffe man sich keine Kriegswende mehr, heißt es in Washington; man wolle aber den Schaden auch für nordkoreanische Truppen, die Russland im Kampf um Kursk unterstützten, maximieren.[5] Moskau hat mehrfach gewarnt, es werde einen Einsatz solcher Waffensysteme als Kriegseintritt der betreffenden westlichen Staaten werten. Mittlerweile gehen US-Stellen davon aus, Russland werde mit Angriffen oder auch Anschlägen auf Ziele der USA und ihrer europäischen Verbündeten antworten.
Gesprächsbereit
Washington riskiert damit eine unkontrollierbare Eskalation zu einem Zeitpunkt, zu dem die Bereitschaft zu Verhandlungen auch im Westen spürbar zugenommen hat. Mitte vergangener Woche berichtete etwa die Washington Post unter Berufung auf zehn aktive und frühere EU- oder auch NATO-Diplomaten, „einige Verbündete der Ukraine“ seien dabei, die Grundlagen für Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew zu schaffen. Bereits zuvor hatte es geheißen, die Ukraine weiche unter dem Druck der Umstände ihre zuvor eisenharte Haltung gegenüber einem von Brasilien und China präsentierten Friedensplan ein wenig auf. Am Wochenende bestätigten Recherchen des Wall Street Journal, in zahlreichen europäischen Hauptstädten setze sich die Erkenntnis durch, eine Suche nach Wegen aus dem Konflikt sei „in wachsendem Maße notwendig“. Kurz zuvor, am Freitag, hatte Bundeskanzler Olaf Scholz erstmals seit Dezember 2022 mit Russlands Präsident Wladimir Putin telefoniert und laut Angaben der Bundesregierung auf eine „Bereitschaft Russlands zu Verhandlungen mit der Ukraine“ gedrungen. Putin hatte, wie der Kreml im Anschluss an das Telefonat mitteilte, bekräftigt, er habe Gespräche niemals abgelehnt und sei jederzeit bereit, sie wieder von neuem zu starten.
Ein Stellvertreterkrieg
Während unklar ist, ob die Erlaubnis der Biden-Administration zum Beschuss russischen Territoriums mit weitreichenden US-Waffen die sich anbahnenden Gespräche schon wieder beendet, hat eine Kommentatorin der New York Times die Logik des westlichen Vorgehens offengelegt. Es sei zutreffend, den Ukraine-Krieg „einen Stellvertreterkrieg“ zu nennen, heißt es in ihrem Kommentar; schließlich gehe es Washington nicht nur darum, die Ukraine bei ihrer Verteidigung gegen Russland zu unterstützen, sondern auch darum, „unseren Feind zu schwächen, ohne ihn selbst direkt anzugehen“. Die Verwüstungen in der Ukraine seien „die extremsten und tragischsten Resultate von Machtspielen, die von größeren Mächten unbarmherzig auf ukrainischem Boden ausgetragen“ würden. Dabei hätten die Vereinigten Staaten der Ukraine kontinuierlich „mehr versprochen“, als sie hätten „liefern wollen oder können“. Damit hätten sie Moskau und Kiew gegeneinander aufgebraucht sowie die Ukraine „gegenüber Putins Zorn verwundbar zurückgelassen“. Man wünsche sich das Land quasi „als Protektorat“, sei aber nicht bereit, es zu schützen. Dabei handle es sich um „eine hässliche Strategie – taktisch vertretbar, aber moralisch zu verurteilen“.