Bürgerlicher „Journalismus“ träumt sich in die Schützengräben

Berauscht am Imperialismus

Mesut Bayraktar

Am Wochenende hält die „Taz“ mal wieder zur Heimatfront. Vorgeschickt wurde diesmal ein Volontär, Jahrgang 1996, Leon Holly, der sich im Ernstfall in den Schützengraben legen will. Unter der Schlagzeile „Kämpfen für Deutschland: Zu den Waffen, Genossen!“ erklärt er seine Gründe – eine Abfolge von Was-wenn-Szenarien, also die blödsinnigste Form von Argumenten. Die Zukunft wird in den Farben des Teufels gemalt, um in der Gegenwart das Weihwasser über die Köpfe der Verwirrten und Getretenen zu schütten.

„Was würdest du tun, was würde ich tun, wenn eines Tages russische Panzer über Oder und Neiße rollen?“ Schon die luftleere Ausgangsfrage zeigt die Verzerrung der realen Sachlage. Es sind in diesem Augenblick deutsche Marder-Schützenpanzer, die auf russischem Boden in Kursk rollen. Es sind NATO-Panzer, die in Deutschland Stellung halten. Es wird die Stationierung von US-Raketen in Deutschland geplant, die eine Reichweite bis nach Russland haben. Nicht „Was würdest du tun“, nicht „eines Tages“, sondern: Was tust du heute, ist die Frage. Wie ist der politisch-ökonomische Klassenzusammenhang der historischen Lage?

Aber eigentlich geht es dem jungen Holly nicht um Panzer. Der lesenswerte Text von Ole Nymoen in der „Zeit“ zum Thema Wehrpflicht hat ihn getriggert: „Ich, für Deutschland kämpfen? Never!“ Während Nymoen sich bei der Analyse um Klasseninteressen bemüht, ist Holly vom staatsräsonkonformen „Reflex“ seines Bauchs überwältigt. „Die Rationalisierungen folgen nach: Der Kampf gegen eine drohende Besatzung wäre allen voran ein Kampf für jene, die nicht kämpfen oder fliehen können.“ Tapfer! Erzähl das mal den desertierten Ukrainern, den Kriegsinvaliden, den ukrainischen und russischen Müttern und Vätern, deren Söhne an der Front verheizt werden, den Kindern der arbeitenden Klassen, die schon morgen mit der Uniform in ihrem eigenen Blut röcheln, weil die ewige Schwärze sich über ihre Augen wirft. Erzähl denen mal, wofür sie sterben, für wessen Ziele.

Übrigens denkt Holly, dass er „die Verteidigung auf einem anderen Wege womöglich besser unterstützen“ könnte als mit einem G36-Sturmgewehr im Schlamm. Er hält sich für etwas Besseres, so sind bellizistische Schreibtischtäter. Sie sagen, sie waren nie im Kriegsgebiet, aber die Sinnesgeilheit, den Krieg mal zu erleben, treibt sie an – oder Holly ist schlichtweg ein Feigling. Wahrscheinlich beides. Jedenfalls unterliegt er einem taktischen Irrtum. Mit seinen Konjunktiven und Hypothesen unterstützt er bereits das Schlachten und Morden, die Kriegshetze der Bürgerlichen und die Rekrutierungskampagne von Pistorius (SPD) und dessen Ministerium. Wie? Er übersetzt die Interessen westlicher Kriegstreiber und des Kapitals in die „Taz“-Spalten, damit bürgerliche Linke rebellische Worthülsen für ihre Revolte gegen alles Böse finden. Dafür wird ihm Pistorius dankbar sein.

Über den Antikommunisten Georg Orwell und seinen gezielt überschätzten Werken bis zu militanten Anarchisten an der Seite ukrainischer Neonazis und der NATO – für Holly ist die Sache klar: Der Kampf gegen den „russischen Mafiakapitalismus“ zugunsten des deutschen Kapitalismus tut not. Denn der Dienst an der Waffe ist es wert, „die liberalen Grundrechte oder das Sozialstaatsgebot im Grundgesetz“ gegen Moskau zu verteidigen. Dass aber vor allem die Grundrechte und der Sozialstaat, für die Holly so gern in den Schützengraben will, gerade aufgrund von „Zeitenwende“, Militarismus, „Kriegstüchtigkeit“, NATO-Offensive ausgehöhlt und trocken gelegt werden, diese Kehrseite kommt Holly nicht in den Sinn. Er hat die Pille des deutschen Imperialismus schon längst geschluckt – und sie berauscht ihn.

Aktuell werden diese Grundrechte von der Ampelregierung abgebaut, ob zum Beispiel jüngst mit Nancy Faesers (SPD) Vorstößen zur heimlichen Hausdurchsuchung oder der geballten Repression des bürgerlichen Staates gegen die Palästina-Solidarität. Seit Jahrzehnten wird dieser von der arbeitenden Klasse hart erkämpfte Sozialstaat von der herrschenden Klasse im eigenen Land mit Verweis auf die Schuldenbremse und stagnierenden Profiten ausgemergelt. Die Absage der Kindergrundsicherung, die verlogene Debatte um Bürgergeld und das totale Versagen beim sozialen Wohnungsbau (nur einige Beispiele) sind der Preis für die milliardenschwere Aufrüstung der Bundeswehr.

Das ist nicht Journalismus, schon gar nicht Aufklärung. Das ist Ideologie zu Diensten der Staatsräson und der Aktien von Rüstungskonzernen wie Rheinmetall, der kürzlich den US-Militärfahrzeughersteller Loc Performance für 950 Millionen US-Dollar gekauft hat. Die Geschäfte laufen, und Holly läuft mit, bis in den Schützengraben. Lasst euch davon nicht verführen. Wenn sie sagen, dass „auch die sozialistische Utopie sich vielleicht eines Tages im Verteidigungskrieg wehren“ müsste, dann hat das nichts mit wissenschaftlichem Sozialismus zu tun. Es geht nicht um „eines Tages“, es geht um Klassenkampf heute, gegen Kapitalismus, gegen ihre Kriege, gegen ihre Propaganda für die Wehrpflicht.

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