Armin Stolper
Meine Leute und ich selber.
54 Beiträge zur Zeit- und Familiengeschichte
294 S., 14.- Euro.
Armin Stolper
Aus Sachsen! Ei, ei! aus Sachsen!
Kleine Kommentare zu einem vom Aussterben bedrohten Stamm
203 S., 12,50 Euro
Beide Bücher bei: GNN Gesellschaft für Nachrichtenerfassung und Nachrichtenverbreitung, Verlagsgesellschaft für Sachsen/Berlin mbH
Er ist ein unermüdlicher Schriftsteller und er hat viel zu erzählen. Er bekennt sich zu Autoren wie Lessing und Gerhart Hauptmann, in deren Tradition er sich sieht, und ist stolz auf den Lessingpreis, den er, neben vielen anderen Auszeichnungen, erhielt. Mehrere Texte beziehen sich auch auf Lessing, zu Gerhart Hauptmann finden sich mehrere Bemerkungen. Beide Dichter waren für Armin Stolper so etwas wie Ahnherren, zu denen sich mehrere russische Autoren gesellten.
Erst 2015 hat er seine Serie über Kaschpar mit dem „5.Buch von Kaschpar und sin Frau Guste“ abgeschlossen – der titelgebende freche Kommentator ist ein Alter Ego Stolpers –, da hat er eine neue Serie begonnen, die eine Sammlung von Landschaften und Leuten ist: 2016 erschien „Meine Leute und ich selber, 54 Beiträge zur Zeit- und Familiengeschichte“, wobei der Untertitel den Satiriker Stolper erkennen lässt: Es gibt bei ihm keine Beiträge, in denen die Familiengeschichte nicht auch Zeitgeschichte und umgekehrt wäre; dazu ist er viel zu sehr seiner Weltanschauung verpflichtet und dialektisch erfahren. Und Kaschpar – manchmal auch sein anderes Ich Hans Wurst – ist immer noch und immer wieder, wenn auch nur am Rande, mit von der Partie. Er gehört zu Stolpers erzählerischen Begleitern, mit denen sich verschiedene Zeit- und Betrachtungsebenen problemlos verbinden lassen. Durch die sprachliche Verfremdung, die sein Kaschpar vornimmt, werden scheinbar unvereinbare Probleme durch einen volkstümlichen Erzählmodus in Beziehung gebracht: „… nun fragt man, was das miteinander hat zu tun. Nu, kennt ihr euch nicht denken?“ Sprachliche Experimente faszinieren Stolper immer wieder: Er spielt mit schlesischen, sächsischen, berlinischen und Lausitzschen Formulierungen und Begriffen.
Der Titel von Armin Stolpers neuem Buch ist Literaturinteressierten bekannt: Der neugierige unterwürfige Wirt aus Lessings „Minna von Barnhelm“, der gleichzeitig Polizeispitzel ist, spricht die geflügelten Worte „Aus Sachsen! Ei, ei! aus Sachsen!“ In diesem kurzen Spruch ist sächsische Mentalität enthalten, wie sie sich der Nichtsachse vorstellt: freundlich und gemütlich, wenn auch ein wenig schlicht. Stolper ist kein Sachse und macht das zu Beginn deutlich. Er liebt indessen Dresden, wo seine Frau herstammt, und Sachsen mit seinen Widersprüchen, trotz der „wechselnden Rollen“, die die Sachsen in der deutschen Geschichte gespielt haben. Es geht ihm nur beiläufig um Dialekt und Mentalität, auf die er zurückgreift, um historische Entwicklungen zu erinnern, die in der Vergessenheit versinken und, wenn es nach der aktuellen Politik geht, auch versinken sollen, Literatur und Kunst, die an die DDR oder an entsprechende Traditionen erinnern: „… ick weeß, warum ich det Sächsische so mag.“ Wieder weisen die sprachlichen Abweichungen auf die Neigung als eine widersprüchliche hin. Sein Schreiben wird von dem bekannten satirisch-ironischen Ton gespeist; sein Kaschpar in den früheren Büchern war die Perfektion dieses Stils: Er – der kommentierende Zeitgenosse – ist Teil des Geschehens und hat eine fast persönliche Bindung zu allen Personen, Vorgängen und Entscheidungen. Dadurch kann er sich bei Namensnennungen oder historischen Vorgängen auf Andeutungen beschränken. Damit allerdings entstehen Probleme, denn das, was er und seine Generation noch entschlüsseln können, gilt für die Nachkommen nicht mehr.
Mit einem auf den ersten Blick schon unterhaltsamen Buch über Sachsen und Sächsisches, das auf den zweiten Blick ein sehr politisches Buch ist, erfüllt Stolper eine Erwartung, die an wirkungsvolle Literatur gestellt werden muss: Sie bewahrt Erfahrungen, sichert erworbenes Wissen und wird über die ästhetische Wirkung hinaus zum Geschichtsdokument. Eine solche Literatur ist nicht nur für Literaturfreunde mehr als kurze Unterhaltung, sie ist auch für an Literatur wenig Interessierte ein Reservoir von Entwürfen, Lebensprogrammen und politischen Programmen. Am eindrucksvollsten sind Stolpers Texte, die aus Dialogen, Briefen, Kurzgeschichten und anderem bestehen, wenn sie sich mit dem Theater beschäftigen, das das Leben des Dramaturgen und Schriftstellers Armin Stolper wesentlich bestimmte. Da werden Geschichte, Personen, Aufführungen und große Theaterereignisse lebendig. Stolpers Texte sind Feuilletons im besten Sinne, zugespitzt, frech und provokant. Sie lassen stets auch die eindeutige politisch-ästhetische Haltung des Autors erkennen, die er zudem in vielen Varianten einbringt: Er sei Kommunist. Was er nach 1989 als „Wende“ erlebte, klassifiziert er als „Konterrevolution“.
Eine Unsicherheit stellt sich für den Leser, vor allem den jüngeren, durch den historischen Abstand zwischen der Geschichtlichkeit der Texte und der Gegenwärtigkeit des Lesens ein. Was für Stolper in den Erinnerungen selbst verständlich ist, ist vielen Lesern von heute fremd und sie müssen es sich erst aneignen. Das wird erschwert, wenn in den Texten Vornamen auftauchen (‚Roland‘ war für Kultur verantwortlich), Abkürzungen verwendet werden, die schwer zu entschlüsseln sind – andere sind noch präsent wie H. S., d. i. Horst Schönemann, aber wie lange noch? – Anderes, was Armin Stolper erlebt hat, bleibt im Privaten und wird für den Leser kaum interessant. Ich hatte das Glück, mit ihm einst seine Freunde im Saarland und die kleine Anna zu erleben, als wir gemeinsam zu Lesungen und Vorträgen dort waren. Sie treten in den Texten mehrfach auf. Aber trotzdem bleibt mir verschlossen, was diese kleine Anna nun in „Anna oder Eine Dresdner Utopie“ einbringt, bleiben doch die Beziehungen zwischen ihr und dem Auftrag, Leben und Wirken von Carus zu erforschen, unscharf. Auch wird sie wenig Neues finden, denn Carus ist im Gegensatz zum entworfenen Bild – „…der C. G. Carus ist selbst bei den Gebildeten reichlich unbekannt…“ – einer der besterforschten und bekannten Wissenschaftler und Künstler der Goethezeit, als Universalgelehrter mit großartigen Ausstellungen, Katalogen, Biografien geehrt und popularisiert, das weltweit bekannte Universitätsklinikum in Dresden trägt seinen Namen und selbst in Kriminalromanen ist Carus Gestalt geworden.
Variationen, Ergänzungen und Korrekturen dieser Art sind, der zugespitzten Formulierung des Feuilletons geschuldet, manchmal nötig. So schreibt Stolper, „wer in Sachsen ein Schriftsteller, Dichter oder Philosoph von Format wurde, wurde immer rausgeschmissen aus dem gesegneten protestantischen Lande oder ging von selbst“ (26). Das ist am Einzelfall zu prüfen; für Dichter wie Gottsched, Gellert und viele andere, auch sich zeitweise in Sachsen aufhaltende Dichter wie Tieck, trifft das nicht zu. Andere, wie 1830 der Kreis um Herloßsohn in Leipzig, an dem auch Reclam, Ortlepp und Mosen wirkten, kamen gerade nach Sachsen, weil Zensur und politische Verhältnisse für sie günstiger waren als in Preußen, Österreich und anderswo.
Es bleibt nicht aus, dass bei der Fülle von Erinnerungen und Dokumenten sich Wiederholungen zwischen den verschiedenen Bänden einstellen. Menschen, die Stolper am wichtigsten waren in seinem Leben, sind immer wieder zu finden: die Regisseure Schönemann und Wekwerth, die Autoren Klaus Eidam und Drescher und andere. Das ist kein Problem; aber es wird eines, wenn auch die Erinnerungen sich wiederholen. Hier wären in Zukunft Kürzungen angebracht. Und auch manche Wertungen sollten überdacht werden. Natürlich versteht man, dass vieles in heutiger Zeit im schnellen Urteil „blöd“ oder „Verblödung“ ist. Aber im gedruckten Zustand – es wird bei Stolper inflationär verwendet – wünscht man Genaueres zu der spontanen Äußerung. Mancher Beitrag bleibt belanglos, so wenn der „sächsische Heimatschutzkasper“ mit „einem preußischen Gendarm“ diskutiert und der Leser ratlos danach sucht, worüber sie sich streiten. Aber: Unersetzbar bleiben Stolpers Bücher als Chroniken für literarische und theatergeschichtliche Entwicklungen, als Dokumente des praktischen Umgangs mit literarischen, besonders russischen und sowjetischen Traditionen, und als Beiträge zu einer Geschichtsschreibung über eine vergangene Gesellschaftsordnung, die in der gegenwärtigen Öffentlichkeit unerwünscht sind, aber – mehrere Beispiele belegen das – immer mehr Interessenten finden.