Die internationalen Qualitätsmedien haben das Sterben in der syrischen Stadt Aleppo entdeckt. Napalm, Cluster-Bomben, Bunkerbomber, weißer Phosphor, gigantische Flammenwerfer, das ganze Programm moderner imperialistischer Kriegstechnik komme zum Einsatz. Es gibt schmerzliche Bilder der leidenden Menschen. Von dutzenden, je nach Quelle auch hunderten Toten ist die Rede. Bilder, wie sie seit dem Vietnam-Krieg kaum noch zu sehen waren. Was diesmal anders ist: Auf der medialen Anklagebank sitzen nicht Barack Obama, Recep Tayyip Erdogan oder die Sauds, sondern Baschar al-Assad und Wladimir Putin. Die US-amerikanische UN-Botschafterin Samantha Power klagte sie im UN-Sicherheitsrat leidenschaftlich der Barbarei an. Was die freie Presse natürlich zu weiterer Anstrengung motivierte.
Gestorben wird in Syrien bekanntlich nicht erst seit letzter Woche. Fast eine halbe Million Menschen sind seit 2011 dem brutalen Krieg zum Opfer gefallen. Mehr als elf Millionen sind auf der Flucht. In etwa so viele wie in Folge des ZweitenWeltkriegs aus dem Osten kamen. Und das bei einer Bevölkerung von 20 Millionen Menschen.
Mit Ausnahme der Bilder, die den „Fassbombenmörder Assad“ denunzieren sollten, schien das große Leiden und Sterben niemanden so recht zu interessieren, so lange die Halsabschneider von Daesh (IS), al-Nusra (al-Qaida), Ahrer asch Scham und den verschiedenen anderen dschihadistischen Gruppierungen auf dem Vormarsch waren. Syrien war, wie der frühere britische Außenminister William Hague deutlich gemacht hatte, „zur ersten Adresse“ für Dschihadisten aus der ganzen Welt geworden. Sie wurden von „unseren“ Verbündeten Saudi-Arabien, den Golfstaaten und der Türkei massiv aufgerüstet und logistisch, personell und materiell bestens unterstützt. Nicht einmal, als dann die Menschen aus den Kriegsgebieten Libyen und Syrien nach Europa flohen, kamen die Qualitätsmedien und die etablierte Politik auf die Idee, das das wohl etwas mit den „Menschenrechts“- und Regimechange-Projekten zu tun haben könnte, welche der „Freie Westen“ mit Hilfe seiner Lautsprecher vom Schlage eines Bernard-Henry Levy und einer Hillary Clinton so eingerührt haben. Aber als sich Ende September letzten Jahres mit dem Eingreifen der russischen Luftwaffe das Blatt zugunsten der Regierungstruppen wendete, kam Bewegung in die Propagandafront. Jetzt gab es verstärkt auch wieder Opfer. Opfer natürlich von „Putin“ und „Assad“. Al-Nusra & Co. haben damit nichts zu tun. Wenn eine authentische Stimme zur Lagebeschreibung gebraucht wird, dann ist es ihre.
Die US-Politik hat seit 1980 in Zusammenarbeit mit der Türkei und den reich gewordenen Golfstaaten ein derartiges Förderungsprogramm für den Dschihadismus aufgelegt, dass dessen Einfluss nun von Westafrika bis zu den Philippinen reicht. Joachim Gauck und Ursula von der Leyen, Präsident und Ministerin für Krieg und Rüstung in der Bundesrepublik, möchten als Hilfskräfte doch zu gern ein bisschen mehr dabei behilflich sein. Und nun jammert man vor der UNO, dass dort, wo sich die Menschen gegen das Mittelalter wehren, Opfer zu beklagen sind.
Am 9. September hatte es für einen Augenblick so ausgesehen, als kehre so etwas wie Vernunft zurück. Die Außenminister Sergei Lawrow (Russland) und John Kerry (USA) erreichten mit dem UN-Beauftragten Staffan de Mistura einen Waffenstillstand, der am 12. September in Kraft trat. Doch schon einen Tag später griffen israelische Flugzeuge syrische Stellungen an. Obwohl Russland von zahlreichen Verstößen gegen die Waffenruhe berichtete, einigten sich die Unterhändler am 15. September auf eine Verlängerung des Waffenstillstands.
Zwei Tage später griff die US-Air Force, zum ersten Mal im Syrienkrieg, mit F16- und A10-Kampfjets bei Deir ez-Zor Stellungen der syrischen Armee an, und tötete bei vier Angriffen etwa 80 Soldaten. Nur 7 Minuten später überrannten al-Nusra-Einheiten die schwer getroffenen Regierungstruppen. US-Sprecher gaben zu, die Angriffe geflogen zu haben. Auch britische und dänische Einheiten sollen mit Drohnen beteiligt gewesen sein. Der Angriff soll ein Versehen gewesen sein.
Der US-Angriff zugunsten der Dschihadisten, mitten im Waffenstillstand, deutet, neben den zionistischen Extratouren, auf die schon zu Beginn des Krieges erkennbaren erheblichen Meinungsverschiedenheiten im US-Regierungsapparat hin. Das Pentagon ist ganz offensichtlich mit dem angeblich zögerlichen Kurs von Barack Obama und Außenminister Kerry nicht einverstanden (und setzt dabei voll auf Frau Clinton). Führende US-Generäle äußerten sich öffentlich skeptisch ablehnend. Kommentatoren haben Parallelen zur U2-Affäre von 1960 gezogen. Damals soll CIA-Chef Allan Dulles gegen eine Annäherung von US-Präsident Eisenhower und der sowjetischen Führung unter Chrustschow intrigiert haben.
Wenn Eskalation der Plan war, dann ist er aufgegangen. Zusammen mit der US-Botschafterin bei den UN Samantha Power haben die Medien wahlweise den Russen oder den syrischen Regierungstruppen die Verantwortung für einen Angriff auf einen Hilfskonvoi des Roten Halbmondes zugeschoben. Ohne Beweis. Der Angriff erfolgte im Gebiet der Dschihadisten. Es ist nicht einmal klar, ob er überhaupt aus der Luft geführt wurde. Aber das Bild, die Russen überfallen einen Hilfskonvoi für die hungernde Bevölkerung einer von ihnen belagerten Stadt, ist einfach zu kriegswichtig, als das man es der Wahrheitsfeststellung überlassen könnte.
Inzwischen hat die syrische Seite die Waffenruhe für gescheitert erklärt. Am 22. September gelang es den Regierungstruppen, die letzten Stadtteile von Homs zurückzuerobern. Mit einem Sieg in Aleppo würde sich die Lage der Dschihadisten drastisch verschlechtern. Das jedenfalls scheint in den „westlichen“ Kanzleien und Redaktionen Alarmstimmung auszulösen. Die gemeinsame Losung zu Beginn des Krieges „Assad muss gehen!“ ist ohne substantielles eigenes Engagement wohl nicht mehr zu erreichen. Entsprechend ist am Wochenende an der Propagandafront einen Gang höher geschaltet worden. Die Rufe nach einer Flugverbotszone – also einer „westlichen“ Luftunterstützung zugunsten der Dschihadisten wie einst in Libyen – werden lauter. In klarer Erkenntnis der Lage hat US-Generalstabschef Joseph Dunford erklärt, die Errichtung einer Flugverbotszone erfordere den Krieg gegen Russland und Syrien.
Auch die russische Seite hat die Zeichen der Zeit offenbar erkannt. Ein offenes Eingreifen des „Westens“ würde die Lage unhaltbar machen. Der US-Angriff auf die syrischen Stellungen zugunsten von al-Nusra, die offene Unterstützung der Dschihadisten, so wird gemeldet, führt auch hier zu einer Änderung der „Rules of Engagement“. Jedes Flugzeug, welches die syrische Armee angreift, werde in Zukunft abgeschossen. Die US-Jets waren schon am 17. September mit der Zielerfassung der S300 Flugabwehrraketen markiert worden. Beim nächsten Mal soll dann wirklich auf den Knopf gedrückt werden. Da im syrischen Luftraum eine Reihe uneingeladener Gäste unterwegs sind, außer der Air Force beispielsweise türkische, israelische, britische, französische und auch deutsche Flugzeuge, hätte das weitreichende Konsequenzen. Wenn Russland wirklich ernst macht, dürfte man dem offenen Krieg gegen die Atommacht Russland einen gehörigen Schritt näher gekommen sein. Die Auftritte im Sicherheitsrat jedenfalls, stellen schon einmal eine gelungene Ouvertüre dar.