Auschwitz als Höhepunkt der imperialistischen Expansions- und Ausrottungspolitik

Befreiung

Die Rote Armee begann am 12. Januar 1945 ihre Weichsel-Oder-Operation. Innerhalb von zwei Wochen legte sie 480 Kilometer zurück. Teil der Operation war die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Am 27. Januar 1945 erreichten Rotarmisten der Belorussischen Front den Ort. 299 Sowjetsoldaten bezahlten den Kampf um die Befreiung von Auschwitz und der Stadt Oświęcim mit ihrem Leben.

Die Rotarmisten waren nach Jahren des Krieges harte Kämpfer – der Tod gehörte zu ihrem Alltag. Aber das Grauen, das sie hier fanden, war nach ihrer Aussage mit Worten nicht zu beschreiben.

Lebende Tote

In dem gewaltigen Lagerkomplex Auschwitz fanden sie zwischen zahllosen, teilweise verschneiten Ermordeten noch etwa 7.000 Überlebende aus über 20 Ländern. In den rund 50 Außenlagern konnten sie noch 500 Gefangene befreien.

Die SS war angesichts des raschen sowjetischen Vorstoßes hektisch bemüht, alle Zeugen und Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen. SS-Führer Heinrich Himmler hatte den Kommandeuren eingeschärft, dass der „Führer“ sie „persönlich verantwortlich“ mache, dass „auch nicht ein einziger Häftling des Konzentrationslagers dem Feind lebend in die Hände“ falle. Gefangene wurden erschossen, Gebäude, Krematorien, Gaskammern und andere Einrichtungen gesprengt, das Gelände wurde von Häftlingskommandos bereinigt. 58.000 Gefangene wurden in Märschen, später auf offenen Eisenbahnwaggons in die Lager Bergen-Belsen, Buchenwald, Dachau, Flossenbürg, Groß-Rosen, Mauthausen, Dora-Mittelbau, Ravensbrück und Sachsenhausen evakuiert. Wer nicht weiter konnte, wurde erschossen oder anderweitig umgebracht. Bei diesen Todesmärschen starb nach Schätzungen etwa ein Viertel der Gefangenen.

Die in Auschwitz noch lebend Verbliebenen waren selbst für einen Abtransport zu schwach. Ihr Durchschnittsgewicht lag bei 30 bis 35 Kilogramm, bei nicht wenigen deutlich darunter. Obwohl die Rote Armee umgehend zwei Feldlazarette zur Verfügung stellte, in denen Ärzte und Schwestern rund um die Uhr im Einsatz waren, starben noch zahlreiche dieser Menschen an der Auszehrung, an Tuberkulose, Hunger, Diarrhö und anderen Krankheiten.

Vernichtung durch Arbeit

Nach dem Überfall auf Polen begann Anfang 1940 die Suche der deutschen Faschisten nach geeigneten, „luftsicheren“ Standorten für ihre geplanten Massenvernichtungsaktionen im Osten. Im Mai 1940 begann die Errichtung des Stammlagers Auschwitz I auf der Basis einer Kaserne in der Nähe des Ortes Oświęcim. Nach dem Überfall auf die So­wjet­union wurden ab Herbst 1941 10.000 sowjetische Kriegsgefangene gezwungen, das Vernichtungslager Birkenau, Auschwitz II, zu bauen, bevor sie selbst umgebracht wurden. Am 3. September 1941 „testete“ die SS die Massenvergasung mit „Zyklon B“ an sowjetischen Kriegsgefangenen im Block 11 des Stammlagers. Etwa gleichzeitig begann die I. G. Farben im Bereich des Lagerkomplexes mit der Errichtung eines Werks für die Produktion von synthetischem Kautschuk (Buna) und zur Kohleverflüssigung. Da diese Produkte von erstrangiger militärstrategischer Bedeutung waren, wurde die Errichtung aus der Reichskasse massiv bezuschusst und mit der Bereitstellung von Arbeitssklaven für Bau und Betrieb überhaupt erst ermöglicht. Die durch Mangelernährung und extensive Arbeitsbelastung schnell ausgezehrten Menschen wurden von der SS umgehend in Birkenau umgebracht und durch neue ersetzt.

Germanischer Kompass

Auschwitz steht als Symbol für die nahezu symbiotischen Beziehungen zwischen den faschistischen Organisationen, dem willigen Staatsapparat, der revanchesüchtigen Armeeführung und den Weltmachtträumen des deutschen Finanzkapitals. Die deutsche Industrie war Inspirator, Helfershelfer und unmittelbarer Nutznießer der weitreichenden Eroberungs- und Versklavungspläne. Im industriellen Ausmaß des Exzesses ist der Holocaust singuläre Erscheinung. Gleichzeitig ist er eingebettet in die Geschichte des deutschen Imperialismus.

Deutsche Geografen und Intellektuelle hatten schon Mitte des 19. Jahrhunderts von einer „allgermanischen Siedlungspolitik großen Stils“ fantasiert: Der germanische Kompass weise nach Osten. Der ökonomische Boom des Deutschen Reiches nach seiner Gründung 1871 ließ diese Fantasien ins Kraut schießen. Im Gegensatz zu den „Deutsch-Mittelafrika“-Fantasten der Deutschen Kolonialgesellschaft bemühten sich der Alldeutsche Verband, die Deutsche Vaterlandspartei und der Deutsche Ostmarkenverein um die Popularisierung der Ostexpansion. Im Denken der Überlegenheit der nordischen Rasse über die „slawischen Untermenschen“ galt es, „Lebensraum im Osten“ zu erobern, ohne den das deutsche Volk nicht überleben könne. Der Wahn von der „Ungleichheit der Rassen“ und der eigenen Überlegenheit wurde beileibe nicht von den Faschisten erfunden.

Der Marsch in den Krieg war damit vorgezeichnet: Er prägte die Weltpolitik von 1914 bis 1945 und kann als ideologische Grundlage des „Zweiten Dreißigjährigen Krieges“ bezeichnet werden.

Wie in den Kriegszieldebatten des Ersten Weltkriegs in den Jahren besonders seit 1915 deutlich wurde, spielte der deutsche Expansionismus die entscheidende Rolle. Vor allem im Osten, gegenüber dem drastisch geschwächten, seit Oktober 1917 bolschewistisch regierten Russland, setzten Reichsregierung und Oberste Heeresleitung (OHL) mit dem Diktat von Brest-Litowsk die Errichtung eines Cordon sanitaire von Pufferstaaten aus der russischen Landmasse durch, der von Finnland bis Persien reichte. Russland verlor dadurch 26 Prozent seines Territoriums, 27 Prozent seiner Ackerfläche, 73 Prozent seiner Stahlindustrie und 75 Prozent seiner Kohlegruben – mit Wirkungen bis in unsere Tage.

041213 Zyklon B Buechsen - Befreiung - Auschwitz, Befreiung von Auschwitz, Genozid, Imperialismus - Theorie & Geschichte
(Foto: edition ost)

Totaler Krieg

War der erste Anlauf 1918 gescheitert, so waren die deutsche „Eliten“ keineswegs bereit, ihre Expansionspläne aufzugeben. Die „Dolchstoßlegende“ und die blutige Niederschlagung der Novemberrevolution und der Räterepubliken legten schon 1918 die Basis für eine drastisch radikalisierte Neuauflage. Angehörige der inneren Opposition wurde interniert oder umgebracht – Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter fanden sich daher als erste in den Lagern der Nazis.

Militärökonomisch war klar, dass die Wirtschaftskraft der Alliierten mehr als dreimal so hoch war wie die der Achsenmächte. Um dennoch zum Ziel zu kommen, brauchte man den überraschenden schnellen Erfolg. Und man brauchte eine radikalisierte Kriegführung – den Vernichtungskrieg, einen barbarischen „totalen Krieg“ jenseits aller humanen Normen, der den Völkermord zum Zwecke der Aufstandsunterdrückung und Beherrschbarkeit ebenso einschloss wie die „optimale Verwertung“ menschlichen Lebens durch ruinöse, extensive Zwangsarbeit mit anschließender Entnahme alles Werthaltigen aus den toten Körpern.

Adolf Hitler hatte in der Weisung 21 („Barbarossabefehl“) vom 18. Dezember 1940 die Kriegsziele der Wehrmacht im Osten mit der „A-A-Linie“ markiert. Bis zu einer gedachten Linie von der russischen Hafenstadt Archangelsk im äußersten Norden bis nach Astrachan am Kaspischen Meer sollten die Gebiete der So­wjet­union erobert werden. Die gewaltige Dimension dieses Großraums setzte die Normen für die deutschen Lager- und Vernichtungskapazitäten. Obwohl die Wehrmacht die „A-A-Linie“ nie erreichte, gebot das „Dritte Reich“ 1942 über einen Wirtschaftsraum von Nordafrika bis zum Nordkap und vom Atlantik bis zur Wolga. Das besetzte Areal in der So­wjet­union war fast doppelt so groß wie das gesamte Reichsgebiet. Die Wirtschaftsorganisation Ost, welche die ökonomische Durchdringung der So­wjet­union koordinierte, war eine Mammutbehörde mit mehr als 18.000 Beschäftigten. Die ökonomische Steuerung aller anderen besetzten Gebiete zusammen hatten nur 16.000 Beschäftigte zu stemmen.

Der „Generalplan Ost“ sah die Vernichtung und Vertreibung von bis zu 85 Prozent der Polen, der Hälfte bis drei Viertel der Tschechen, Ukrainer und Weißrussen sowie 65 bis 85 Prozent der Russen vor. Die deutsche „Intelligenzaktion“ im besetzten Polen (1939 bis 1941), bei der insgesamt fast 100.000 Mitglieder der polnischen Führungselite umgebracht wurden, hatte deutlich werden lassen, dass die Faschisten jedes Widerstandspotenzial rücksichtslos eliminieren wollten. Gleiches galt für den „Kommissarbefehl“ vom 6. Juni 1941, der anwies, die Politischen Kommissare der Roten Armee nicht gefangenzunehmen, sondern zu erschießen. Im selben Jahr entwickelte das deutsche Ernährungs- und Landwirtschaftsministerium einen „Hungerplan“. Die im besetzten Teil der So­wjet­union produzierten Lebensmittel sollten beschlagnahmt und ins Reich geliefert werden. Bis zu 30 Millionen Hungertote waren einkalkuliert. Tatsächlich, so die Schätzungen, haben die Faschisten etwa sieben Millionen Menschen in der So­wjet­union gezielt verhungern lassen. Bedenkt man die gesamte „Mordkapazität“ von Auschwitz mit etwa 1,3 Millionen Ermordeten, so wird die monströse Dimension dieser Planungen deutlich.

Kolonialismus

Das faschistische Expansions- und Vernichtungsprogramm war auch international keineswegs so singulär, wie es in der bürgerlichen Geschichtspolitisierung gern dargestellt wird. Es war der grausame Höhepunkt in der langen Kette von Ereignissen, welche man als europäische Expansion bezeichnen kann, die im 15. Jahrhundert begann. Die iberischen Adelsgesellschaften, aber auch der niederländische und britische Handelskapitalismus begannen ihre Fernhandelspolitik zu einem rücksichtslosen Kolonialismus auszuweiten und mit einem einträglichen Sklavenhandel zu ergänzen, welcher den Grundstein für die ursprüngliche Akkumulation legte.

Vor allem der angelsächsische Kolonialismus zog eine Blutspur durch die Geschichte, die ihresgleichen sucht. In beiden Amerikas lebten vor 1492 geschätzt etwa 54 Millionen Menschen – rund 90 Prozent waren bis zum 16. Jahrhundert durch Krieg, Seuchen und Sklaverei vernichtet.

Wer große Areale erobern und besiedeln will, muss der dort lebenden Bevölkerung das Existenzrecht absprechen. Das geschieht in der Regel über funktionale Formen des Rassismus. In der Hochphase des Kolonialismus waren rassistische Theorien in Europa und den USA in bürgerlichen Kreisen weitverbreitet. Deshalb waren die angloamerikanischen Mächte im „Zweiten Dreißigjährigen Krieg“ zwar der militärische Gegner des deutschen Imperialismus, aber stets auch das ideologische und machtpolitische Vorbild.

Auch wenn sich Teile der Herrschenden heute von den Formen des Kolonialismus distanzieren, bleiben Wesen und ideologische Grundmuster erhalten. Wie anders wäre die weltweite Präsenz der US-Kriegsmaschine mit ihren 800 Stützpunkten zu begründen, wenn nicht mit der rassistischen Überheblichkeit, eine „unverzichtbare“, „auserwählte Nation“ zu sein?

Allerdings: Die 500-jährige Phase der europäisch-nordamerikanischen Dominanz geht rapide dem Ende entgegen. Es gibt eine nicht ganz unberechtigte Hoffnung, dass sich eine künftige Weltordnung ein wenig humaner gestaltet.

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"Befreiung", UZ vom 24. Januar 2025



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