Eine Reise nach St. Petersburg zum Tag des Sieges 2024

Befreit an der Newa

Reinhold Hinzmann

Zum 9. Mai nach St. Petersburg – diesen Traum erfüllte sich UZ-Leser Reinhold Hinzmann kürzlich. Eindrücke und Fotos davon teilt er in seinem Reisetagebuch:

Am 29. April flog ich von Frankfurt am Main nach Istanbul. Warum Istanbul? Wegen der EU-Sanktionen sind Direktflüge nach Russland nicht möglich. Also nach Istanbul, dort übernachtet und am nächsten Morgen weiter nach St. Petersburg. Dort kam ich gegen 15 Uhr an. Laut Open Street Map beträgt die Distanz Frankfurt – St. Petersburg 2.232 Kilometer. Von Frankfurt bis Istanbul sind es 2.219 Kilometer, von dort bis zum Ziel nochmals 3.335 Kilometer. Der Umweg für Hin- und Rückreise: 11.108 km! Ökologisch vorbildlich.

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Anlass der Reise: den 9. Mai 2024 in St. Petersburg zu erleben. (Foto: Reinhold Hinzmann)

Unkomplizierte Einreise

Die Einreiseformalitäten am Flughafen Pulkowo waren unkompliziert; die Grenzbeamten sehr freundlich und hilfsbereit. Ich fühlte mich sofort willkommen. Ein Beispiel: Ich hatte mich an einem Schalter für Ausländer angestellt und wartete. Dann sprach mich ein Grenzbeamter an und führte mich zu einem anderen Schalter, an dem keine Passagiere warteten. Nach wenigen Minuten konnte ich weitergehen.

Später kaufte ich mir eine Wochenkarte für den öffentlichen Nahverkehr. Die ist für die ganze Stadt gültig und kostet 1.000 Rubel, etwa 10 Euro. Busse und Metro fahren circa alle fünf Minuten. Das Metro-System ist sehr übersichtlich; nach einem Tag fand ich jedes Reiseziel, ohne jemanden fragen zu müssen. Zu den Haltestellen kommt man über Rolltreppen, die über 100 Meter tief liegen. Schon diese Fahrt ist ein Erlebnis. Die Haltestellen-Durchsage erfolgt über Lautsprecher und über Anzeigen am Monitor. Das macht die Fahrt sehr einfach. Die Stationsnamen sind zweisprachig markiert, auf Russisch und Englisch.

Es gibt unzählige Museen in St. Petersburg. Nur einen kleinen Teil habe ich besichtigt: Schlossplatz, Winterpalast, Bluterlöserkirche, Peter-und-Paul-Festung, Admiralität, Piskarjowskoe-Gedenkfriedhof, Blockade-Denkmal, Museum der politischen Geschichte Russlands, Kirow-Museum. Und für einen Opernliebhaber war ein Besuch im Marinskij-Theater Pflicht.

Gedenkfriedhof der Opfer der Blockade Leningrads

Dort sind über 420.000 zivile Opfer der Blockade Leningrads durch die faschistische Wehrmacht und über 70.000 Soldaten der Roten Armee begraben, die bei der Verteidigung der Stadt starben. In einem Gebäude am Eingang des Friedhofs sind Exponate zu sehen, die das Leid der Bevölkerung sehr anschaulich demonstrieren. Ein Stück Brot, 125 g, die Tagesration eines erwachsenen Menschen. Am Ende der 450 Meter langen Allee steht eine Statue der Trauernden Mutter Heimat. Auf dem gesamten Gelände ist feierliche Musik verschiedener Komponisten zu hören – von Schostakowitsch, aber auch Beethoven.

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Äußerst schmale Ration: Mit einem Stück Brot dieser Größe (125 Gramm) musste ein Erwachsener während der Blockade Leningrads über den Tag kommen. (Foto: Reinhold Hinzmann)

Tags darauf besuchte ich das Monument der Verteidiger Leningrads am Moskauer Prospekt, am Platz des Sieges. Ein Granit-Ring, in der Mitte ein Obelisk, symbolisiert den Durchbruch der Blockade 1943.

Im Inneren der Gedenkstätte wird das Leiden der Bevölkerung während der über 900 Tage dauernden faschistischen Blockade gezeigt. Über eine Million Menschen ermordeten die Faschisten. Ausgestellt sind Uniformen und Waffen der Roten Armee, Schulbücher aus dieser Zeit und Modell-Ansichten des Frontverlaufs in der Stadt. Schreckliche Fotos und kurze Filme sind zu sehen. Ein kleines Kind, kurz vor dem Hungertod, bei ihm ein Arzt, der das Kind liebevoll und gleichzeitig verzweifelt anschaut, weil er ihm nicht helfen kann. Menschen, die in der Kälte erfroren oder an Hunger gestorben sind. Die Temperaturen sanken in diesen Jahren teilweise auf minus 45 Grad. Aber gut dokumentiert ist auch der Kampf der Roten Armee und der Bevölkerung gegen den faschistischen Terror.

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Das Monument der Verteidiger Leningrads (Foto: Reinhold Hinzmann]

Am nächsten Tag besuchte ich das Museum der politischen Geschichte Russlands. Es befindet sich in der Nähe der Peter-und-Paul-Festung. Dort wird die Geschichte Russlands von 1830 bis zur Gegenwart in vielen Exponaten erzählt. Bilder aus dem Museum sind auf dessen Website zu finden.

Die nächsten Tage schaute ich mir weitere Gebäude und Plätze an. Etwa das Smolni-Kloster, ein sehr schönes Gebäude mit sehr viel Gold auf den Türmen, so wie ich es auch bei anderen Kirchen gesehen habe.

Am 6. Mai fuhr ich mit der Metro zur Peter-und-Paul-Festung, ein sehr großes Areal auf der anderen Seite der Newa. Diese Festung gilt als Geburtsort der Stadt. Die Bauarbeiten begannen 1703, zehntausende Arbeiter kamen dabei ums Leben. Die Stadt wurde ins Meer gebaut. Die geologischen Probleme waren enorm, zum Beispiel der Moorboden. Teil des großen Geländes ist die Peter-und-Paul-Kathedrale. Die Zaren wurden dort in Marmor-Sarkophagen beerdigt. Der Turm und das Innere der Kathedrale sind großflächig mit Gold geschmückt.

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Hier arbeiteten einst Sergej Kirow – und Stalin. (Foto: Reinhold Hinzmann)

Am 7. Mai war ich im Kirow-Museum. Das Gebäude war Sitz der Leningrader Stadtverwaltung und war Arbeitsplatz von Sergei Mironowitsch Kirow, geboren am 27. März 1886 (nach gregorianischem Kalender), ermordet am 1. Dezember 1934. Er war Sekretär der Leningrader Kommunistischen Partei und Mitglied der Stadtverwaltung. Zeitweise arbeitete auch Stalin dort. Ich sah sein Büro, Wohnung, Bibliothek und eine Ausstellung von Spielzimmern aus dieser Zeit. Sehr engagiert erzählten mir die Angestellten über das Museum. Gute Eindrücke vermittelt die Website, die auch in englischer und französischer Sprache gelesen werden kann.

9. Mai

Der 9. Mai ist in Russland der Tag des Sieges über den deutschen Faschismus. Die ganze Stadt war geschmückt. Der Morgen begann mit einer Militärparade auf dem Schlossplatz. Am Nachmittag dann eine große Kulturveranstaltung, die Atmosphäre friedlich und würdevoll, der sehr große Platz voller Menschen. Große Zustimmung fand das Lied „Meinst Du, die Russen wollen Krieg“. Leider habe ich die Reden nicht vollständig verstanden. Der Zugang zum Platz erfolgte über eine Sicherheitsschleuse und Gepäckkontrolle, so wie an Flughäfen. Dadurch konnten sich alle sehr sicher fühlen. Interessant: Die Polizei war unbewaffnet.

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Die Parade … (Foto: Reinhold Hinzmann)

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… zieht vorbei … (Foto: Reinhold Hinzmann)

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… am 9. Mai 2024 in St. Petersburg. (Foto: Reinhold Hinzmann)

In der DDR war der 8. Mai Tag der Befreiung; in der BRD gilt er teilweise bis heute als „Tag der Niederlage“. Warum in Russland der 9. Mai? Am 8. Mai 1945 wurde in Berlin-Karlshorst die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht erklärt. Die Generäle Keitel, von Friedeburg und Stumpf unterzeichneten für die Wehrmacht, Marschall Georgi Shukow für die UdSSR, Luftmarschall Tedder für die Westallierten und als Zeugen die Generäle Spaatz für die USA und Lattre de Tassigny für Frankreich. Die Erklärung erfolgte um 23 Uhr Berliner Zeit. In Moskau war es da schon 2 Uhr am Folgetag.

Am 10. Mai ging ein unvergesslicher Aufenthalt zu Ende. Eine wunderschöne Stadt, viele freundliche und hilfsbereite Menschen. Nie habe ich Ablehnung wegen meiner Nationalität erfahren. Im Gegenteil, die Menschen freuten sich, dass ein Deutscher an den Feierlichkeiten zum Tag des Sieges teilnahm. Nie darf vergessen werden, welche Verbrechen der deutsche Imperialismus in der Sowjetunion und anderen Ländern begangen hat, 27 Millionen ermordeter Sowjetbürger, die Pläne, Leningrad dem Erdboden gleich zu machen.

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(Foto: Reinhold Hinzmann)

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