Am frühen Morgen des 13. Januar griffen die USA und Britannien über 60 Ziele im Jemen an – ihr vorgebliches Ziel: „Deeskalation“. In einer von zahlreichen Staaten veröffentlichten und von der Bundesregierung unterstützten Erklärung war die Rede von „Selbstverteidigung“. Man wolle die Stabilität im Roten Meer, im Arabischen Meer und in der Bab-el-Mandeb-Meerenge wiederherstellen und die internationale Schifffahrt schützen, so die am 18. Dezember unter US-Führung gegründete maritime Militärmission „Wächter des Wohlstands“ (Operation Prosperity Guardian).
Die Attacken, denen noch zahlreiche weitere folgen sollten, stellten offiziell den – erfolglosen – Versuch dar, die seit Ende Oktober von den jemenitischen Ansar Allah („Huthis“) zunächst auf israelisches Territorium und Schiffe in (teilweise) israelischem Besitz und später auf alle Schiffe mit dem Ziel Israel ausgeführten Angriffe mit Drohnen und Raketen zu stoppen. Am 19. November hatten sie gar in einer spektakulären Aktion einen Frachter im Besitz einer Firma mit israelischem Anteilseigner gekapert und in den Hafen von Hodeida geschleppt. Bürger Jemens durften das Schiff in den folgenden Wochen betreten und „besichtigen“.
Nicht auf dem Zettel
Zweifellos sind die Ansar Allah die größte Überraschung im seit Oktober tobenden Gazakrieg, der sich längst zu einem regionalen Krieg ausgewachsen hat. Mit der libanesischen Hisbollah, die im Jahr 2000 die israelischen Besatzungstruppen aus dem Libanon vertrieb und der israelischen Armee im Jahr 2006 in einem 33-tägigen Krieg widerstand, war gerechnet worden. Und auch den vom Iran unterstützten Volksmobilisierungskräften (al-Haschd al-Schaabi) im Irak, die ihre Fähigkeiten im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) erheblich ausgebaut haben, traute man zu, sich in den Krieg einzumischen. An die Ansar Allah, die sich seit 2015 im Krieg mit einer von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) angeführten Militärkoalition und noch viel länger in einem innerjemenitischen Krieg befinden, dachte hingegen kaum jemand.
In westlichen Medien und Regierungskreisen werden die De-facto-Herrscher des Nordjemen als Befehlsempfänger Irans dargestellt – eine Einordnung, die der Realität allerdings auch nach Einschätzung ihnen nicht wohlgesonnener Experten keinesfalls standhält. Zwar begreifen sich die Ansar Allah als Teil der von Iran geförderten „Achse des Widerstands“, der auch die Hisbollah, die im Oktober gegründete und sich im Wesentlichen aus den Volksmobilisierungskräften zusammensetzende Dachorganisation „Islamischer Widerstand im Irak“ sowie Syrien zugerechnet werden. Entwickelt hat sich die Bewegung, die sich selbst als revolutionäre Erneuerungskraft begreift, aber eigenständig. Zwar tragen die Ansar Allah ihre Bewunderung für die Islamische Republik und ihre Verbundenheit mit dieser offen zur Schau und sowohl der Gründer als auch der derzeitige Anführer der Bewegung haben im iranischen Ghom studiert. Auch sind die Beziehungen zu Teheran in den vergangenen Jahren enger geworden. Ihre nationalen Ziele, aber auch ihr aktuell hervortretendes regionales Agieren ordnen die Ansar Allah allerdings keinen Befehlen unter – auch nicht iranischen. Der Großteil der in ihrem Besitz befindlichen Waffen stammt aus Beständen der jemenitischen Armee oder wird in Eigenproduktion hergestellt.
Entstehung der Ansar Allah
Die Wurzeln der Ansar Allah liegen im bevölkerungsreichen Nordjemen, über den sie seit 2014 die Kontrolle ausüben. Das bergige Grenzgebiet zu Saudi-Arabien gilt als Hochburg der Zaiditen, die zwar offiziell dem schiitischen Islam zugerechnet werden, in vielerlei Hinsicht aber dem Sunnitentum näherstehen. Bis zur Revolution im Jahr 1962 hatten – mit Unterbrechungen – vom 9. Jahrhundert an zaiditische Imame die Herrschaft im Jemen inne. In der Folgezeit aber wurden die zaiditisch besiedelten Regionen systematisch vernachlässigt. Seit dem Machtantritt von Ali Abdullah Salih – selbst Zaidit, der aber die Unterstützung einflussreicher Sunniten genoss und der den Nordjemen bis 2011 regierte – wuchs zudem der saudische Einfluss im Land immens an. Aus Riad finanzierte radikale sunnitische Kräfte bedrängten zunehmend die 40 Prozent der jemenitischen Bevölkerung ausmachenden Zaiditen und versuchten, die als „gottlos“ Bezeichneten zur strengen wahhabitischen Ideologie zu bekehren. Hauptziele der in den 1990er Jahren entstehenden Bewegung der Ansar Allah waren die Beendigung der Bevormundung aus Riad, das den Jemen wie seinen Hinterhof behandelte, und die Gleichbehandlung zaiditischer Siedlungsgebiete bei der staatlichen Förderung. Der Aufstand der Ansar Allah nahm seinen Anfang im Jahr 2004 – lange vor Beginn des sogenannten arabischen Frühlings – unter Führung ihres damaligen Oberhaupts Hussein Badreddin al-Huthi. Dieser erste bewaffnete Konflikt endete im Jahr 2008 mit einem Waffenstillstand. In die insgesamt sechs Kriege, die die jemenitische Regierung gegen die Ansar Allah führte, griff auch das saudische Königreich militärisch ein.
Jemenitischer Frühling
Wie in anderen Ländern der Region kam es auch im Jemen im Jahr 2011 zu großen Demonstrationen gegen den korrupten Langzeitherrscher Salih. Den letzten Ausschlag gegeben hatte der Versuch des Machthabers, sich per Verfassungsdekret das Präsidentenamt auf Lebenszeit zu sichern. Schnell wurden die Ansar Allah von breiten Teilen der Bevölkerung als Sprachrohr der Protestierenden akzeptiert, weil sie im Gegensatz zu anderen Kräften kein Teil des Machtapparats gewesen waren und sich am glaubwürdigsten für die Belange der vernachlässigten Massen einsetzten. Auch ihre Forderung nach einem föderalen System, das allen Gruppen des Landes kulturelle und religiöse Unabhängigkeit zugestehen sollte, traf auf breite Zustimmung. Die Ansar Allah stellen öffentlich politische über religiöse Botschaften und ihre Ideologie weist starke antiimperialistische Züge auf, was auch bei sunnitischen Jemeniten Anklang findet. Das Bündnis der Salih-Regierung mit den USA nach dem 11. September lehnten sie genauso vehement ab wie die US-amerikanische Invasion im Irak im Jahr 2003.
Weg in den Krieg
Nachdem sich die Mehrheit der Armee auf die Seite der Demonstranten und der Ansar Allah geschlagen hatte, mehrere Minister und jemenitische Botschafter ihre Ämter niedergelegt hatten und sich Salih nach einem Granatenangriff auf den Präsidentenpalast in Saudi-Arabien acht Operationen unterziehen musste, war sein Schicksal besiegelt. Zwar kehrte er in den Jemen zurück, musste aber wenig später die Macht an seinen Vize Abed Rabbo Mansur Hadi abgeben, der im Februar 2012 ohne Gegenkandidaten für zwei Jahre zum Präsidenten gewählt wurde. Dass er die versprochene Verfassungsreform nie ausarbeitete, ein zweijähriger „Nationaler Dialog“ nicht zum Erfolg führte und Hadi zu allem Überdruss noch Steuererhöhungen für Benzin und eine von den Ansar Allah abgelehnte Neugliederung der Bundesstaaten ankündigte, führte zu neuerlichen Massendemonstrationen. Die Ansar Allah eroberten den gesamten Norden Jemens inklusive der Hauptstadt Sanaa – obwohl Iran versucht hatte, sie von deren Einnahme abzuhalten. Hadi, dessen Amtszeit bereits abgelaufen war, flüchtete nach Aden. Auch Hodeida, über dessen Hafen 70 Prozent der Lebensmitteleinfuhren abgewickelt wurden, fiel unter die Kontrolle der Ansar Allah. Als sie Anfang 2015 auch auf Aden marschierten und Hadi vor Gericht stellen wollten, floh der nach Saudi-Arabien. Im April 2022 wurde er von einem ebenfalls nicht demokratisch legitimierten „Präsidialen Führungsrat“ abgelöst.
Zu diesem Zeitpunkt lief der verheerende Bombenkrieg gegen den schon zuvor als „Armenhaus der arabischen Welt“ bekannten Jemen bereits seit sieben Jahren. Eine von der ursprünglich aus neun Mitgliedern bestehenden Kriegskoalition verhängte See-, Land- und Luftblockade verschärfte die – inzwischen vom Gazastreifen abgelöste – laut Vereinten Nationen größte humanitäre Krise unserer Zeit immens. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden 4,5 Millionen Menschen zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht. Über 80 Prozent der insgesamt 30,5 Millionen Einwohner sind auf humanitäre Unterstützung angewiesen. Besonders Kinder sind betroffen: 2,2 Millionen leiden an schwerer Unterernährung.
Einflussnahme des Imperialismus
Die „Anti-Huthi-Allianz“, auf deren Seite die insbesondere von den USA und Britannien logistisch und militärisch, aber auch von zahlreichen anderen Staaten wie Deutschland mit Waffenlieferungen und politisch unterstützte Kriegskoalition eingriff, ist längst tief gespalten – in von Riad unterstützte Hadi-Getreue, von den VAE geförderte Separatisten des Südübergangsrats sowie Muslimbrüder, Stammeskämpfer und andere bewaffnete Gruppen. Auch Riad und Abu Dhabi verfolgen keineswegs identische Ziele. Saudi-Arabien versucht sich seit Jahren aus dem Jemenkrieg zurückzuziehen, weil dieser nicht zu gewinnen, aber äußerst kostspielig ist. Hinzu kommen seit 2017 durchgeführte Angriffe der Ansar Allah auf saudisches, seit 2022 auch auf VAE-Territorium, die erst mit Beginn einer brüchigen Waffenruhe vom April 2022 ausgesetzt wurden. Im Dezember 2023 lag ein unterschriftsreifes Abkommen vor, das Riad aber auf Druck Washingtons, das bereits mehrfach hinter den Kulissen gegen ein Ende des Krieges interveniert hat, nicht unterzeichnete.
Während das wahhabitische Königreich für einen vereinten, möglichst unter saudischem Einfluss stehenden Jemen, vor allem aber für die Sicherung der eigenen Grenzen eintritt, schielt Abu Dhabi auf eine langfristige Kontrolle der jemenitischen Häfen und Seestraßen im Süden und denkt nicht an ein Ende der Allianz mit örtlichen, für ihre äußerste Brutalität bekannten Milizen. Gemeinsam mit Israel sollen die VAE Militär- und Geheimdienststützpunkte mindestens auf der jemenitischen Insel Sokotra errichtet haben.
Strategische Bedeutung
Aufgrund seiner Lage ist Jemen von immenser geostrategischer Bedeutung. Schon im Jahr 1839 besetzten darum die Briten Aden, der dortige Hafen diente fortan der Bekohlung und Trinkwasserversorgung der britischen Schiffe auf dem Seeweg nach Indien. Das Bab el-Mandeb (Tor der Tränen), eine der wichtigsten Wasserstraßen, über die 12 Prozent des Welthandels verschifft werden, verbindet den Golf von Aden und damit das Arabische Meer und den Indischen Ozean mit dem Roten Meer, das wiederum über den Suezkanal mit dem Mittelmeer verbunden ist. Fast 21,5 Prozent des raffinierten Öls und über 13 Prozent des Rohöls passieren das Bab el-Mandeb. Israel bezieht etwa ein Viertel seiner gesamten Importe aus Asien und versucht darum schon lange mittels Bündnissen mit Eritrea, Ägypten, Saudi-Arabien und den VAE, Kontrolle über diese Route zu erlangen oder zumindest die Gefahr einer Seeblockade – wie die des Suezkanals durch Ägypten im Jom-Kippur-Krieg von 1973 – zu minimieren. Mit dem Abschluss der „Abraham Accords“ im Jahr 2020 ist Tel Aviv seinem Ziel einen guten Schritt nähergekommen.
„Achse des Widerstands“
Die Ansar Allah, die ihre Streitkräfte längst zu einer schlagfertigen Armee ausgebaut haben, drohten allerdings dies zunichtezumachen. Und mehr als das: Ihre Angriffe auf Schiffe im Roten und Arabischen Meer haben verdeutlicht, dass eine exklusive westliche – und besonders US-amerikanische – Kontrolle der globalen Seewege nicht mehr akzeptiert wird. Die von den USA geführte Koalition der Willigen und auch eine EU-Militärmission können daran nichts ändern. Vielmehr wirken die Ansar Allah infolge der wiederholten US-amerikanischen und britischen Angriffe auf jemenitisches Gebiet nur noch entschlossener. Man begrüßt, endlich direkt Krieg gegen diejenigen führen zu können, die die Zerstörung Jemens erst ermöglicht haben. Und arabische Machthaber fordert man auf, einen Landkorridor zu öffnen, um den eigenen Kämpfern ein Eingreifen vor Ort in den Gazakrieg zu ermöglichen. Dabei bleibt die Exit-Strategie klar definiert: Wenn der Gazakrieg gestoppt und die dortige Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Medikamenten versorgt werde, würden auch die Angriffe eingestellt, so die Ansar Allah. Gemeinsam mit den anderen Kräften der „Achse des Widerstands“ fordert man zudem einen Abzug aller US-amerikanischen Truppen aus der Region, vor allem aus Irak und Syrien.