„Draußen vor der Tür“ ist ein umstrittenes Stück. Die Kritik und die Rezeption war niemals einhellig.
Worum geht es: Nach einer dreijährigen Kriegsgefangenschaft in Sibirien kommt der Unteroffizier Beckmann zurück nach Hamburg. Er findet seine Frau in den Armen eines anderen. Sie beraubt Beckmann seines Vornamens. Der in der Stadt Verlorene will sich das Leben nehmen. Aber die Elbe – der Fluss, zu dem Hamburger ein Verhältnis wie zu ihrer Mutter haben – weist ihn zurück. Die Elbe spuckt den Verzweifelten in Hamburg-Blankenese wieder aus.
Gott, den Beckmann vor dem Sprung ins Wasser trifft, lamentiert über seine „Kinder“. Beckmann fragt ihn, seit wann man ihn denn einen „lieben Gott“ nennt und wo er im vergangenen Krieg „lieb“ gewesen sei. Ein an Toten überfressener Tod versichert Beckmann einer stets offenen Tür zu seinem Reich. Beckmann wird, bis zum vorletzten Akt des Stückes, vom „Anderen“ begleitet. Über das Wesen des „Anderen“, also darüber, wessen Verkörperung er darstelle, gehen seit der Uraufführung von „Draußen vor der Tür“ als Hörstück im NWDR die Meinungen auseinander. Wie viele andere auch bin ich der Meinung, dass Borchert mit dem „Anderen“ die Gesellschaft an sich darstellen wollte, die Beckmann auffordert sich wieder zu integrieren. Aber Beckmann kann nicht. Er schleppt nicht nur das Gewicht der steinigen Verlorenheit in den Steinhaufen der zerbombten Stadt mit sich, sondern auch seine Verantwortung für einen Krüppel und elf bei einem Angriff getötete Soldaten. Er trägt also an einem Leid, das auf ihm lastet, und das er loswerden will – er will sich entschulden, also der Schuld entledigen. Sein ehemaliger Oberst, der sich im zerstörten Hamburg eine ordentliche Wohllebe gönnen kann, soll die Verantwortung zurücknehmen. Damit wird der Oberst zu einer Doppelung des schwachen Gottes. Aber im Gegensatz zum lamentierenden Gott, der seine Kinder beklagt, ist der Oberst eine arrogante Gottheit preußischen Zuschnitts. Er nimmt die Schuld nicht zurück, entschuldet also Beckmann nicht, sondern rät ihm, erst mal „Mensch“ zu werden.
Eine zum Scheitern verurteilte Idee also, die Beckmann da hatte. Aber ein notwendiger Teil des Stückes. Denn der Unteroffizier Beckmann wird seine Schuld nicht los, weil er sie nicht von sich schieben kann. Sie ist Teil seines Selbst geworden.
Als Spiegelung von Beckmanns eigener Frau hat Borchert die Figur des „Mädchens“ eingefügt. Sie findet schon früh im Stück Beckmann, durchtränkt vom Wasser der Elbe, am Strand und nimmt den „Fischmann“ mit sich nach Hause, gibt ihm die abgelegten Kleider ihres Mannes, die Beckmann viel zu groß sind. Auch hier wird mit konkreten Mitteln abstrahiert. Im ständigen Wechsel zwischen Traum und Wirklichkeit erscheint Beckmann der Mann des „Mädchens“, treibt ihn dabei aus dessen Haus, bevor er, der Mann, Selbstmord begeht – er schafft also den Abgang aus dem grauenhaften Leben in den erlösenden Tod, im Gegensatz zu Beckmann.
Das Stück lebt durch die hohe poetische Kraft der Sprache Borcherts. Es lebt von Alliterationen und rhythmischen Satzkonstruktionen. Es lebt aus dem Stakkato der Monologe Beckmanns, der einen Sprechanteil von sechzig Prozent hat. Es lebt also von der Verdichtung.
„Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“ von Sönke Neitzel und Harald Welzer ist ein Buch, dass man sich neben den Borchertschen Text legen kann. Die Schaubühne in Berlin hat Ausschnitte in ihre Inszenierung des Kriegsstückes eingefügt. Wie kein anderes Drama gibt es „Draußen vor der Tür“ her, zugleich konkretes Theater zu sein und eine abstrakte Lehreinheit. Das hat natürlich Brechtsche Höhe. Die Protokolle sind durch das Abhören von Gesprächen deutscher Kriegsgefangener durch den englischen und amerikanischen Geheimdienst entstanden. Sie offenbaren das ganze Grauen des deutschen Vernichtungskrieges. Da sprechen dann die Offiziere nicht mehr in der verdichteten Form des Oberst (und auch Beckmanns), sondern wesensgleich (das allerdings!) in der aufgeschriebenen Realität. Mehr Einblick in die Köpfe von Massenmördern und Kriegsverbrechern ist anderenorts kaum gelungen.
Und selbstverständlich sind Stück und Protokolle natürlich geeignet, auch Gültigkeit für die gegenwärtigen Kriege zu haben. Denn, da bin ich mit vielen britischen und US-amerikanischen Kritikern einer Meinung: Beckmann ist der ideelle Gesamtsoldat. Der Schütze Arsch, der Zugführer, der mit seinen Leuten ins Feuer geschickt wird. Er ist im Stück verortet (in Hamburg), zugleich aber leicht und ohne etwas ändern zu müssen auch in jeder anderen Stadt dieses Planeten verortbar. Das ist die große Abstraktionsleistung des Stückes. In diese Abstraktion können die Abhörprotokolle eingepasst werden, sie sind das konkrete Element der deutschen Schuld an einem singulären Völkermord, das natürlich, sie sind aber auch ein Paradebeispiel von individueller Schuldverarbeitung oder eben der Schuldnegierung. Sie sind die ideellen Gesamtoffiziere nach allen Kriegen, und zwar völlig unabhängig von ihrem Status, also der Frage, ob es sich – wie in diesem Falle – um besiegte Faschisten handelt oder die Sieger eines Krieges.
Das Theaterstück ist wie kaum ein anderes in der Lage, die Kontinuität deutscher Politik darzustellen. Von den oft freispruchgleichen – und viel zu wenigen – Schuldsprüchen gegen die Völkermörder und Kriegsverbrecher vor deutschen Gerichten bis zur schnellen Entnazifizierung derer, die die NSDAP vor 1933 finanziert und an die Macht gebracht haben.
Aus dem großdeutschen Soldaten Beckmann, diesem scheinbaren Opfer, das auch Täter ist und sich von seiner Schuld durch die Rückgabe der Verantwortung an den Oberst ja entschulden will, ohne sich damit auseinanderzusetzen, wird der bundesdeutsche Soldat Beckmann.
Das grundlegende Missverständnis ist die Annahme, Borchert hätte ein Stück darüber geschrieben, dass in Kriegen immer alle Opfer wären. Das mag der kleinbürgerlichen küchenphilosophischen Literaturrezeption geschuldet sein; richtig ist es nicht. Nein, da sind nicht alle Opfer, auch dann, wenn sie von den Massenvernichtungen erzählen, die sie selbst begangen haben, als hätte sie ein höheres Wesen dazu gezwungen. Sie sind Teil eines anonymen, aber nicht schicksalhaften Grauens: die einen als Täter, die anderen als Opfer und viele als beides zugleich.
Die immer nur das sehen, was der ordentliche deutsche Soldat damals wie vermutlich heute sieht: sein Leid, das sind die Beckmanns sowohl wie die Oberste. Und das Leid der Anderen ist allenfalls gut noch für eine Erzählung. Der zwiespältigen Person Beckmann, der nicht einmal der Tod vergönnt ist und die nichts anderes tun kann, als am Schluss des Stückes darüber zu klagen, dass keiner, keiner antwortet, erscheinen die Opfer wieder im Gewand der moralisch schlecht Handelnden. Das Mädchen verkörpert diese Opfer und es holt sich den nassen Beckmann, weil es einsam ist, statt auf den verschollenen Mann zu warten. Es handelt gegen Beckmanns moralische Attitüden (mehr ist diese Moral ja nicht als Attitüde), aber wie viel weniger ist diese leichte moralische Verwerfung als die Handlungen Beckmann und des Obersten.
Borcherts eher schmales Gesamtwerk, dass sich ganz in die paar Lebensjahre, die der schwerkranke und noch junge Autor nach 1945 hatte, einpasst, das trauert um die Kriegstoten und um das zerbombte Hamburg, ist weniger ein Antikriegswerk als das Resultat von Krieg und Grauen. Es ist, bei allem ethisch-moralischen Impetus, ein berichtendes Werk. So auch dieses Stück, das sicher zu dem Besten gehört, was deutsche Theaterliteratur je hervorgebracht hat. Vielschichtig ist es und keinesfalls eines, das den einfachen Soldaten, den Unteroffizier von der Schuld befreien will, von der niemand den befreien kann, der an Völkermord und Verbrechen teilgenommen hat. Nein, es zeigt das Resultat des eigenen Handelns. Es sollte öfter gespielt werden. Denn aktuell ist es, wie der Fall von Oberst (nunmehr General) Klein in Afghanistan zeigt – um nur ein Beispiel zu nennen.