Vor 30 Jahren starb der Dichter und Kommunist Ronald M. Schernikau. Wir nehmen das als Anlass, vier unserer Autoren einen Blick auf sein Werk und sein Wirken werfen zu lassen. In den kommenden Wochen werden Ken Merten, Max Meurer und Markell Mann an und mit Schernikau denken. Den Auftakt macht in dieser Ausgabe Dietmar Dath.
Als die bildungsbürgerliche Hochkultur noch lebendig war statt ein verlassenes Museum mit eingeschlagenen Fensterscheiben, in dem alte Standbilder mit Namen wie „Humanismus“ oder „Aufklärung“ zerbröseln, nannte man schöpferische Leute, die früh sterben, „Unvollendete“. Man ging davon aus, dass diese Menschen Angefangenes fertiggestellt oder Neues hervorgebracht hätten, wenn sie nicht früh gestorben wären. Schon damals liebte die Bourgeoisie Phrasen, die erbauliche Empfindungen suggerieren, zu denen sie vor lauter Geldgedanken gar nicht fähig ist. Man träumt sich eine geistige Welt, die nicht so flüchtig und zufallsbeschränkt sein soll wie der kapitalistische Alltag.
Ronald M. Schernikau, Dichter und Kommunist, der 1991 zu Beginn seines vierten Lebensjahrzehnts an den Folgen von Aids starb, hätte zweifellos noch Großes geschrieben, wäre ihm im Fall des Weiterlebens danach gewesen. Aber sein Erbe ist dennoch „vollendet“, wenn auch in Trümmern, vor allem das umfangreichste Werkstück, „legende“ (erst 1999 veröffentlicht), das beim Schreiben sehr anstrengend gewesen sein muss und beim Lesen sehr kurzweilig ist. Nichts, was er schrieb, schon gar nicht dieses Monument, eignet sich für Studienräte und Intelligenzblatt-Leserinnen, die ihn einen „Unvollendeten“ nennen würden und dabei nicht halb so lebendig sind wie er heute.
Erzählt wird in „legende“ von vier Gottheiten, also ideal ausgestalteten Menschen (der Verfasser war nicht religiös bekloppt). Er hat diese Idole einigen historischen Gestalten des langen Kampfes für Kultur und Kommunismus (im Kern dieselbe Sache) nachempfunden. Es gibt in „legende“ allerdings auch Schwachköpfe, Kriecher und ein paar letzte Bildungsbürger, damit man besagte Gottheiten als Wegweiser schätzen lernt, die aus der Gegend führen, wo die menschlichen Nullen die großen Zahlen machen.
Im Gegensatz zur (damals, zur Zeit der Niederschrift, wie auch jetzt) gängigen BRD-Literatur macht „legende“ klar, dass und wieso das Ende der DDR ein Schlag für die Zivilisation war, den man mit einem Gegenschlag erwidern sollte. Schernikau sagt neben allerlei Überraschendem manchmal auch das, was auf der Hand liegt: „der kommunismus wird siegen werden“. Der Buchkoloss „legende“ (die 2019 erschienene Neu-, oder sagen wir: Volksausgabe, umfasst 1.072 Seiten) hat Risse und Brüche, nicht erst durch Abnutzung, er ist schon so auf die Welt gekommen: uneinheitlich, als Mischung von Tatsachenquellenmaterial mit Träumen und Visionen. War Schernikau demnach ein Flickendichter, wie viel zu viele?
Sein Erstling sah noch anders aus. Diese 1980 in der BRD unter dem Titel „Kleinstadtnovelle“ erschienene Arbeit war Erzeugnis eines begabten Menschen, dessen Mutter aus unpolitischen Gründen die DDR verlassen hatte, deren Wert sie kannte. Das Buch handelt von einem jungen Mann, der einen jungen Mann liebt. Der Geliebte ist ein Feigling, eine der schlimmsten politischen Menschenschwächen erschließt uns Schernikau damit anschaulich als private Schuld. Der kurze Text hat keine Falten, die Proportionen stimmen, die Oberfläche glänzt schwarz, das Produkt schluckt jede Neugier wie schwarzer Stein das Licht und verwandelt sie in Erkenntnis. Derart kompakt schrieb der Dichter nie mehr.
Das hat sein Lehrer Peter Hacks, Dramatiker aus der DDR, oft beklagt und ihn dafür getadelt, etwa beim Lesen des Romanessays „die tage in l. – darüber, daß die ddr und die brd sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer literatur“ (1989).
Sanft, aber bestimmt empfahl der Ältere dem Jüngeren, weniger flatterhaft zu schreiben – das Urteil dahinter ist wahr, aber ein bisschen ungerecht. Denn Schernikaus Fragmentbauweise läuft dem klassischen Kunstideal „Einheit, Harmonie, Klarheit“ aus ganz anderen, viel besseren Gründen zuwider als bei denen, die dieses Ideal aus Originalitätszwang verstockt ignorieren. Gegen bloß Modisches hat Schernikau sich stets tapfer positioniert. Bei allerletzter Gelegenheit wurde er zum Beispiel Bürger der DDR. Als dieser Staat zerschlagen war, blieb er politisch „ein sicherer Mann“, wie wieder Hacks ihn nannte. Man kann sich von der Richtigkeit auch dieser Kennzeichnung überzeugen, indem man die epochale Rede über die Verantwortung der Literatur in der Konterrevolution liest, die Schernikau vor verunsicherten Kolleginnen und Kollegen gehalten hat; sie ist abgedruckt im Bändchen „Königin im Dreck. Texte zur Zeit“ (2009). Politisches Denken braucht als materielle Basis einen sozialen Resonanzraum. Der ist gegeben, solange irgendwer irgendwo noch gegen Unrecht kämpft, und war im deutschen Sprachraum also auch nach 1990 nicht weg. Die materielle Basis für klassische Kunst dagegen ist nicht der Kampf ums Richtige, sondern eine halbwegs erwachsene, von den gröbsten Erpressungen des entfremdeten Alltags freigestellte sozialistische oder wenigstens bürgerliche Kulturwelt. Von Derartigem kann für den deutschsprachigen Raum seit 1990 keine Rede mehr sein. Zwar schrieb Hacks trotzdem weiter klassisch, denn er hatte sich einen Vorrat an Resonanzmustern im eigenen Hirn angelegt; aber wo hätte so ein Vorrat beim Jüngeren, der im Exil westdeutschen Blödsinns hatte geistig darben müssen, herkommen sollen?
1993 schimpfte Hacks ungnädig in einem Privatbrief, Schernikau habe letztlich „keine Romane schreiben“ können und „auch keine Stücke“. Wenn das Maß, nach dem literarische Erzeugnisse den Gattungen zugerechnet werden dürfen, ihre unbeschädigte Geltungskraft ist, dann stimmt das – den Spruch, die Kunst müsse bruchstückhaft sein, wo die Welt im Zwist mit sich liegt, weist man ja mit Lukács und mit Recht zurück, wenn man nicht spinnt. Aber Schernikau hat nicht freiwillig mit Trümmern gespielt. Er fand sie vor. In seinem Kraftfeld, zeigt sein Gesamtwerk, beginnen sie, Muster zu bilden. Wer eine Seite Schernikau liest, sieht, wohin der Text gehört. Die Aufgabe der Ordnung bleibt. Schernikau hinterließ sie uns, unmissverständlich.
Ronald M. Schernikau
Königin im Dreck. Texte zur Zeit
304 Seiten, 18 Euro
legende
1.072 Seiten, 58 Euro
beides Verbrecher Verlag.
Erhältlich unter uzshop.de