Das Bahnbrechende an Thomas Metschers Fauststudie „Faust und die Dialektik“ ist, dass der Autor erstmals in umfassender Form den Beweis antritt, „dass der Widerspruch für diese Dichtung konstitutiv ist; der Widerspruch nicht im logisch-analytischen, sondern im dialektischen Sinn. (…) Dies zu zeigen und einige Folgerungen daraus zu ziehen, ist Absicht dieser Schrift.“ Das allein weckt großes Interesse und verweist auf die Brisanz der Forschung. Doch ist das über 600 Seiten starke Buch nicht für den Elfenbeinturm geschrieben, sondern darum bemüht, alle Leser zu erreichen, die bereit sind, sich auf die Lektüre des „Faust“ und dieser Studie einzulassen. Wer das tut, erlebt auf diesen Seiten wunderbare Freude an einer Erkenntnis, die nicht rückwärts, sondern nach vorn gerichtet ist, unter Beweis stellt, wie große Literatur unabdinglich zur Erkenntnis der Welt führt.
Metscher vertieft sich in Goethes Dichtung als historisch-materialistischer Dialektiker und legt überzeugend dar, dass es dem Dichter „um Geschichte, um den geschichtlichen Prozess in der Totalität seiner Momente“ geht. Metschers Studie ist in acht Bücher gegliedert, in denen das erste und das achte die Funktionen von Prolog und Epilog übernehmen, die anderen Bücher jeweils wesentlichen Aspekten in der Beweisführung dienen.
Suche nach menschenwürdigem Leben
Metscher analysiert Goethes „Faust“ als eine Suche nach einer menschenwürdigen Lebensform, frei von individueller Gewaltherrschaft zugunsten kollektiver Kraft, die Ablehnung magischer Herrschaft und die Herausforderung eines entfremdeten Naturverhältnisses. Das Drama vereint Tragik und Komik in einer ironischen Dialektik, die die Widersprüche menschlicher Existenz beleuchtet, während Ironie und die Figur des Mephistopheles die komplexe Natur des Dramas durchdringen. Das offene Ende des Werks zeigt letztlich die Notwendigkeit sozialen Wandels auf.
In seiner Erörterung der Relation zwischen Naturverhältnis und Magie legt Metscher den Fokus auf die Entwicklung von Fausts Verhältnis zur Natur und der gesellschaftlichen Ordnung. Anfangs zeigt Faust Interesse an Magie als Mittel zur Erkenntnis und zur Überwindung seines naturverhafteten Zustands. Dieses falsche, magische Naturverständnis führt zu einer tragischen Welt des Konflikts und der Unterwerfung. Im Laufe des Dramas durchläuft Faust eine Entwicklung, die von der Suche nach Wissen durch Magie über die Verstrickung in die tragische Liebesbeziehung mit Gretchen bis hin zur Einsicht in die Begrenztheit der magischen Welt führt. Diese Erkenntnis markiert den Übergang zur Suche nach einem authentischen Naturverhältnis und einem harmonischen gesellschaftlichen Zusammenleben, das nicht mehr auf Gewalt und Unterwerfung basiert, sondern auf Erkenntnis und Freiheit. Am Ende des Dramas erreicht Faust eine Art Versöhnung mit der Natur und ein Verständnis für die menschliche Rolle in der Welt, das auf echter Erkenntnis und nicht auf Illusion beruht.
Gewalt und Herrschaft
Ein wichtiges Thema in Faust I ist das Verhältnis von Gewalt und sozialen Verhältnissen. Gewalt als grundlegende Kategorie der poetischen Welterfassung spiegelt sich insbesondere in der Tragödie um Gretchen, deren spätmittelalterliche Umgebung von patriarchalischen Strukturen und anderen Gewaltformen beherrscht ist. Ihre Umgebung ist von Enge geprägt, wobei die Kirche als institutionelle Macht starken Einfluss auf Gretchens Leben und Gewissen hat. Die Liebe zwischen Faust und Gretchen wird als Gegenmacht zu den gesellschaftlichen und institutionellen Zwängen dargestellt. Gretchens Lieder und ihre Liebesbeziehung zu Faust stehen im Kontrast zur bestehenden Weltordnung und symbolisieren eine Sehnsucht nach Freiheit und Erfüllung jenseits der gesellschaftlichen Normen.
In „Faust II“ vollzieht sich der Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft. Die Figurenkonstellation von Faust und Mephistopheles repräsentiert das aufstrebende bürgerliche Subjekt, das die Handlung vorantreibt und die Transformation der Gesellschaftsordnung symbolisiert. Im fünften Akt von „Faust II“ wird Faust in einer postfeudalen Welt dargestellt. Der Kaiser spielt keine Rolle mehr und Faust hat sich in der Zwischenzeit ein Imperium angeeignet. Die transformierte Landschaft, die von Natur in Kultur umgewandelt wurde, ist nun unter Fausts Kontrolle. Diese Metamorphose spiegelt die Charakteristika der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft wider, mit einer ausgeprägten Arbeitsteilung zwischen Herren und Knechten.
Erichtho, als „Geist der Geschichte“, eröffnet die Klassische Walpurgisnacht und reflektiert über Geschichte als endlosen Machtkampf unter den Mächtigen. Trotz der Vorherrschaft der Gewalt in der Geschichte hebt sie auch den Kampf der Freiheit gegen Tyrannei hervor. Dieser Konflikt zwischen Freiheit und Tyrannei erscheint als grundlegende Opposition, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft birgt. In der Klassischen Walpurgisnacht zeigt Goethe die Antike nicht nur als Quelle der Zivilisation, sondern auch als Zeitalter des Krieges und der Barbarei. Helena verkörpert die klassische Schönheit, die jedoch von Krieg und Raub umgeben ist. Fausts Vision von einem Leben im Einklang mit der Natur, frei von magischer Gewalt, steht für Goethes utopisches Ideal einer harmonischen Weltordnung.
Die Liebe und das Ewig-Weibliche
Die Liebe ersetzt traditionelle metaphysische Konzepte und sie vereint materielle, körperliche, seelische und geistige Aspekte zu einer schöpferischen Einheit. Die neue Liebe nimmt die Form der Weiblichkeit an und wird als „Himmelskönigin“, „höchste Herrscherin der Welt“, „Jungfrau, Mutter, Königin, Göttin“ metaphorisiert. Diese Metaphern symbolisieren einen Prozess des Werdens und Ablaufs, der letztlich auf Gretchen als Verkörperung dieser Liebe hinweist. Das „Ewig-Weibliche“ entsteht als entpersonalisiertes Konzept, das die Essenz dieser vereinigten Liebe darstellt.
Im Höhepunkt der Dichtung, den Bergschluchten, wird der utopische Gegenentwurf zu einer von Gewalt beherrschten Welt präsentiert. Dieser utopische Entwurf umfasst die Transformation der Welt durch Liebe und Arbeit und beide Utopien sind untrennbar miteinander verbunden. Sie repräsentieren einen neuen Horizont, der eine Welt der Liebe als Triumph über die Gewalt imaginiert. Tätigkeit ist dabei von zentraler Bedeutung in Goethes Werk, so auch in den „Meister“-Romanen, wo Bildung durch Tätigkeit als Grundidee erscheint und von Goethe als Prozess der Selbst- und Welterziehung betrachtet wird. Der Bildungsroman des Individuums wird hier als Bildungsroman der Welt begriffen, wo das Ich in den Prozess der Umgestaltung der Welt aktiv eingreift. Die Poesie selbst ist die Quelle dieser utopischen Kraft. Sie deckt das verborgene Potential der menschlichen Natur auf, das durch Liebe und Hoffnung Zuversicht auf eine Transformation der Realität vermittelt. Diese Utopie bleibt als Möglichkeit in der Wirklichkeit bestehen, solange Menschen existieren und das Prinzip der Liebe in der Geschichte wirksam ist.
Die Eröffnung der Klassischen Walpurgisnacht verortet die Handlung im späten Mittelalter und thematisiert die emanzipatorische Wissenschaft sowie die Kritik an der entfremdeten modernen Zivilisation. Besonders die Laboratoriumsszene mit Homunculus parodiert eine Wissenschaft, die sich von natürlichen Grundlagen abwendet und ein abstraktes, weltloses Geistwesen schafft. Diese einleitenden Szenen setzen den Kontrast zur zentralen Thematik der Klassischen Walpurgisnacht, die die Wiedergewinnung der Naturgrundlage des menschlichen Lebens feiert. Die komplexe Struktur und vielschichtigen Bezüge der Klassischen Walpurgisnacht zeigen die transformative Kraft der Dichtung. Sie reflektiert Vergangenheit und Gegenwart und bietet einen Blick auf die Zukunft der menschlichen Existenz im Spannungsfeld zwischen Natur, Kultur und Wissenschaft.
Goethe konzipierte die Klassische Walpurgisnacht als Erinnerungsweg zu den kulturellen Ursprüngen im antiken Griechenland, wobei die Geschichte als Mittler fungiert, um die Dimension der Natur und ihre Entwicklung zu erschließen. Natur wird durch kulturelle Formen und historische Erinnerung zugänglich. Dies reflektiert Goethes pantheistischen und dialektischen Ansatz, bei dem Geschichte als fortlaufender „Stoffwechsel“ zwischen Mensch und Natur verstanden wird. Er zeigt die Entwicklung der Natur von chaotischen Formen hin zu vollendeter Schönheit und betont die Rolle von Eros als schöpferische Kraft.
Die Klassische Walpurgisnacht, ein dramatischer Höhepunkt im Werk, behandelt tiefgründige philosophische und ästhetische Themen. Sie vermittelt die konfliktreiche Natur menschlicher Geschichte und zeigt gleichzeitig die lebensspendenden Kräfte des Naturhaften und Humanen auf. Diese Nacht spiegelt die objektive Ordnung von Natur und Geschichte wider, die Fausts Erkenntnis und die Kunstproduktion im Helena-Akt ermöglicht.
Die Klassische Walpurgisnacht fordert Leser und Zuschauer auf, die komplexen Kräfte und Konflikte der Geschichte zu erkennen und eine humane Gesellschaft auf naturgegebenen Grundlagen aufzubauen. Sie ist ein zentrales Element der „Faust“-Dichtung mit eigener ästhetischer und philosophischer Bedeutung und bereitet zugleich den Helena-Akt vor. Während Faust in der Klassischen Walpurgisnacht die Naturgrundlagen kultureller Bildung erforscht, symbolisiert der Helena-Akt die Schaffung der neuzeitlichen ästhetischen Kultur durch die Aneignung der Antike im Geiste der Moderne und im romantischen Gewand des Mittelalters. Dem negativen Faust steht die Möglichkeit eines alternativen Faust ohne Magie und Teufel gegenüber.
Die Suche nach Wissen
„Faust II“ zeigt Fausts unaufhörliche Suche nach Wissen, Macht und Sinngebung. Seine Reise führt ihn durch spirituelle Sphären, wo er mit Alchemie und Magie experimentiert und schließlich in politische Machtkreise gelangt, wo er seine Visionen verwirklichen will. Doch durch seine Partnerschaft mit Mephisto und seine Ambitionen stößt Faust an die Grenzen menschlicher Möglichkeiten. Dabei werden die Figuren tiefgründig dargestellt und die poetische Sprache spiegelt Goethes komplexe Ansichten über menschliches Streben und die individuelle Beziehung zur Welt wider.
Eine Szene beschreibt, wie Faust zu den Müttern geht, um die Quellen des Seins und der Weltordnung zu finden. Die Mütter selbst sind metaphorische Gestalten, die den tiefsten Grund des Seins repräsentieren, und deuten auf die tiefe Komplexität und undurchdringliche Natur der metaphysischen Realität hin, die Faust zu ergründen versucht. Sein Gang zu den Müttern führt Faust zur Natur als ewige Materie und zugleich ins eigene Unterbewusste, um die schöpferischen Kräfte des Ich freizusetzen. Ziel ist die ästhetische Produktion, verkörpert durch die Erschaffung Helenas.
Widerstand gegen die Barbarei
Im Epilog diskutiert Metscher zwei für ihn wichtige Autoren im inhaltlichen Zusammenhang mit „Faust“: Thomas Mann und Peter Weiss. Trotz ihrer Unterschiede setzen sich sowohl Manns „Doktor Faustus“ als auch Weiss‘ „Die Ästhetik des Widerstands“ als Epochenromane mit der faschistischen Barbarei auseinander. Beide verarbeiten diese Erfahrung aus der Perspektive der Vernunft und mit den Mitteln der Kunst.
Metscher schreibt: Mephistopheles trägt von Beginn das Prinzip der höllischen Herrschaft in sich als Vertreter des Nichts, des nihilistischen Weltprinzips. Die Konfrontation von Humanität und Barbarei, Realismus und Nihilismus, Marx und Nietzsche ist hier vorgebildet. Die Gegenmacht zum nihilistischen Weltprinzip ist dann auch auf keinen Fall Faust als Person, sondern allein noch das Prinzip der Arbeit und der Liebe, das an die Seite des Prinzips Hoffnung (Bloch) tritt.
Und damit formuliert Goethe, was Shakespeare ebenfalls als das Wesen der antagonistischen Klassengesellschaft begriff und was in der Zuspitzung „Sozialismus oder Barbarei“ bis heute weiterhin existentielle Geltung hat. Goethe wie Shakespeare und die Aufrechten in Geschichte und Gegenwart warnen vor der Barbarei und rufen dazu auf, ihr durch Widerstand zu begegnen.
Thomas Metscher
Faust und die Dialektik
Studien zu Goethes Dichtung
Mangroven Verlag, 610 Seiten, 40 Euro
Erhältlich im UZ-Shop
Von unserer Autorin und Thomas Metscher erscheint in diesen Tagen im Neue Impulse Verlag „Kunst und Revolution“.
Unsere Autorin liest auf den UZ-Friedenstagen aus „Kunst und Revolution“ und aus ihrem jüngsten Werk „Widerstand und Befreiung“.
„Widerstand und Befreiung“ eröffnet die faszinierende Welt der aufständischen irischen Literatur. Entdeckt, wie Beckett, Joyce, Shaw und Wilde in eine große literarische Tradition eingebettet sind. Jenny Farrell beleuchtet revolutionäre LiteratInnen und Stimmen der Arbeiterbewegung aus marxistischer Perspektive. „Kunst und Revolution“ betrachtet die Revolution in Form der Kunst von Shakespeare bis Neruda und liefert neue Einsichten in den Realismus und die Aufklärung der Kunst sowie ihre Rolle in Zeiten des Imperialismus. Lasst euch von diesen revolutionären Werken begeistern!
Freitag, 23. August, 19 Uhr im Kultursalon