Die Architekturdiskussion heute nimmt weitestgehend keinen Bezug zu gesellschaftlichen Fragen. In Zeiten des revolutionären Aufbruchs im vorigen Jahrhundert war das anders. In den Zwanzigern, unmittelbar nach der Oktoberrevolution, war das Neue Bauen mit Forderungen für eine bessere Gesellschaft verbunden. Die Dreißiger Jahre waren für die Sowjetunion Jahre der politischen Zuspitzung. In der Entwicklung des Sozialismus auf sich allein gestellt, musste sich die SU mit dem forcierten Industrieaufbau und einer dafür notwendigen Kollektivierung der Landwirtschaft nach innen und außen als überlebensfähig und widerstandsfähig erweisen. Warum war damit die Hinwendung der Architektur zur Tradition verbunden?
Der Mainstream im Westen ist gegenüber der sowjetischen Architektur der Zwanziger wohlwollend bis begeistert, anders verhält er sich zur Architektur der Dreißiger: da habe die Avantgarde aufgehört zu wirken.
Der bekannte russische Architekturhistoriker Selim O. Chan-Magomedow, Leitfigur auch für westliche Kritiker, schreibt: „Der allgemeine gesellschaftliche und politische Klimawechsel im Lande zu Beginn der dreißiger Jahre sollte sich unmittelbar hemmend auf die kreativen Tendenzen in der Architektur auswirken. Das spiegelte sich in einer erneuten Thematisierung der Form und der gesellschaftlichen Funktion wider.“[1] Schon vorher hatte Magomedow sein Weltbild folgendermaßen erläutert: „Unser soziales Experiment (in der Sowjetunion; AH) hat gezeigt, dass die in breitem Maßstab angewendeten altruistischen Stimuli nicht wirksam werden. Heutzutage ist das private, persönliche Interesse der einzig mächtige ‚Motor‘ für die Entwicklung der Zivilisation. Das Abschalten dieses ‚Motors‘ verzögert die Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft und ruft zum Zwecke ihrer Beschleunigung verschiedene Formen des Zwangs hervor, was eine Absage an die Demokratie bedeutet.“[2]
Die Thematisierung der Form und der gesellschaftlichen Funktion der Architektur wird also negativ beurteilt. Ist das nicht der L’art-pour-l’art-Standpunkt? Und wie ist es mit der Avantgarde, die da aufgehört habe, zu wirken? Der Sozialismus in den dreißiger Jahren konnte doch sicherlich nur durch die Avantgarde, die Partei der Arbeiterklasse, gesichert und entwickelt werden, und da hatten die Architekten ihren Platz.
Mein besonderes Interesse gilt der Avantgarde zwischen Tradition und Moderne, ihrem „Verhältnis zu Tradition und Sozialismus“ in dieser Zeit[3] und keinesfalls losgelöst aus gesellschaftlichen Zusammenhängen. Daher zitiere ich Hans Heinz Holz: „Moderne ist kein Prinzip, sondern ein Relationsbegriff; dieser Begriff füllt sich nur mit Inhalt, wenn man das Ziel kennt und benennt, auf das hin die jeweils zur Vergangenheit werdende Gegenwart überschritten werden soll. Nur wer dieses Ziel begründen und die Wege zu seiner Verwirklichung umreißen kann, ist Avantgarde.“[4]
Der Philosoph Lothar Kühne ergänzt: „Eine Avantgarde, die mit dem Monopolkapitalismus kooperiert, wie dies Mies, Gropius, Le Corbusier u. a. getan haben, ist im gesellschaftlichen Sinn keine Avantgarde. Ihr Arbeitszusammenhang war die Stadt und Architektur als Objektivation der imperialistischen Ideologie, die ein Illusionäres, die Transparenz der Gegensätze abschwächendes Gesellschaftsbild spiegelt.“[5]
Ich habe im Juni dieses Jahres die drei größten Städte Russlands nach Moskau und St. Petersburg – Nowosibirsk, Jekaterinburg und Nischni-Nowgorod – besucht, um dort die Architektur der dreißiger Jahre zu erleben. Glückliche Umstände ergaben, dass ich auf meiner Reise in diese Städte über Internet und Couchsurfing Kontakte zu jungen Architekten fand, die für dieses Thema aufgeschlossen sind und mir wichtige Hinweise gaben.
Rekapitulieren wir kurz den Weg der modernen Architektur nach Historismus, Arts and Crafts – einer britischen Erneuerungsbewegung in Kunst und Design – und Jugendstil: „Das Neue Bauen anerkennt die Klassensituation unter den Bauwerken nicht, zum Beispiel die künstlerische Höherwertung einer Villa gegenüber einem Reihenhaus oder eines Verwaltungsgebäudes gegenüber einer Fabrik. Damit hat das Neue Bauen eine Gesellschaft zur Voraussetzung, der diese Wertstufen unbekannt sind, mit anderen Worten: eine klassenlose Gesellschaft.“[6]
Hannes Meyer, nach Walter Gropius der Direktor des Bauhauses, wollte mit den modernen Mitteln und mit Möglichkeiten der Architektur die Probleme der Massen lösen. Unter dem Motto „Dem Volke dienen – Volksbedarf statt Luxusbedarf“ sollte L‘art pour l‘art – die Kunst um der Kunst willen – ersetzt werden durch die Indienstnahme der neuen Technologie. Um die von Kubismus und „de Stijl“, einer künstlerischen Bewegung in den Niederlanden, beeinflussten Formalismen der 1920er Jahre – auch im Bauhaus unter Walter Gropius – zum Funktionalismus und darüber hinaus vom positivistischen Funktionalismus hin zur sozialpolitischen Strategie zu überwinden, bedurfte es der materialistischen Methodik von Architekten wie Hannes Meyer, Karel Teige u. a. Der Zusammenbruch der Weltwirtschaft 1929 war schließlich Auslöser für diese Architekten, sich zu marxistischen Positionen und zum Bündnis mit dem revolutionären Proletariat zu bekennen. Dies führte dazu, dass Hannes Meyer aus dem Bauhaus geworfen wurde.
Architekten wie Gropius, Mies van der Rohe fuhren in die USA, wo ihr Funktionalismus im Sinne des klassenindifferenten Internationalen Stils vereinnahmt, von dort aus wiederum als detailanalytischer, technizistischer Modernismus gefördert und verbreitet wurde.
Hannes Meyer kommt 1930 auf Einladung der sowjetischen Regierung mit seinen besten Mitarbeitern, der „Roten Brigade“, nach Moskau, um sich für den Aufbau des Sozialismus zur Verfügung zu stellen. Er wird Professor an der Hochschule für Architektur und Bauwesen und Chefarchitekt des Trusts für den Bau Höherer und Technischer Schulen. Und dennoch: Anlässlich seiner Ausstellung über das Bauhaus in Moskau erfährt Meyer Kritik: seine Architektur reduziere sich auf eine utilitäre Funktion, das Fehlen der künstlerischen Elemente käme dem Ignorieren sozial-ideologischer Elemente gleich.
Architekturstreit in der 20ern
In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre wurde die theoretische Auseinandersetzung mit der Tradition bestimmt von der Frage des sozialen Auftrags der Kunst und dem daraus resultierenden Anspruch nach Allgemeinverständlichkeit. Lenin erklärte, die Kunst solle ausgehen von der Stärke der breiten werktätigen Masse, von ihren tiefen Wurzeln. Sie solle von ihr verstanden und geliebt werden; sie solle Gefühl, Sinnlichkeit und Freiheit dieser Massen zu vereinen verstehen. Auch im 19. Jahrhundert hatte die Avantgarde ein besonderes Traditionsverständnis. Die Volkstümler/Narodniki waren revolutionäre Intellektuelle.
Kritik am Konstruktivismus[7]
]Das Ziel der Konstruktivisten verschob sich zunehmend von seiner „lebensorganisierenden“ Rolle zu einer von Material und Technik bestimmten Architekturideologie. Das wurde kritisiert und darüber hinaus auch die Verabsolutierung des Zusammenhangs zwischen Form und Funktion. Arkadi Mordwinow, der im Wesentlichen diese Kritik vorbringt, vertritt die Thesen der Allrussischen Vereinigung Proletarischer Architekten (WOPRA)[8]:
„Wir erkennen die positive historische Rolle des Konstruktivismus an im Prozess der Überwindung des Eklektizismus und der technischen Routine. …“ Aber wir sind der Meinung, dass in der Epoche der Diktatur des Proletariats und des Kampfes für die sozialistische Umgestaltung der Welt die Architektur in Inhalt und Form klassengebunden sein muss.“ Der funktionalen Methode stellten die WOPRA-Mitglieder die dialektische Methode gegenüber, das allseitige Erfassen des Gegenstandes in der Architektur als Einheit von Sinnlichkeit und Rationalem. In dialektischer Beziehung stehen „Revolution der Kunst“ einerseits und „Kunst für die Revolution“ andererseits. Es ist der Kampf des Inhalts mit der Form und umgekehrt das Abwerfen der Form und die Umgestaltung des Inhalts. Der schweizerisch-französische Architekturtheoretiker Claude Schnaidt schreibt, Mordwinows Einstellung sei die einzig richtige und dennoch habe er sich von der dialektischen Betrachtungsweise nicht genügend leiten lassen, da er die traditionalistische Architektur allzu sehr förderte.
Die Umstände in den Dreißigern in der Sowjetunion haben es nicht zugelassen, dass eine echte Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Tendenzen der Linkskritik des Neuen Bauens erfolgte. Die 1929 einsetzende marxistische Aufhebung des Neuen Bauens bleibt die Aufgabe.[9]
Zwischen dem Alten und dem Neuen liegt die Dialektik des „Aufhebens“. Dies ist ein Begriff, der in seiner dreifachen Bedeutung diesen Prozess ausgezeichnet und sehr bildhaft zu beschreiben vermag. „Aufhebung“ heißt: 1. Zerstörung, Eliminierung, Beseitigung der negativen Seiten des Alten; 2. Bewahrung, Fortführung der positiven Seiten der Vergangenheit; 3. Hebung auf eine höhere Stufe und Qualität, womit sich das Neue erst tatsächlich konstituiert.
Die analytische Methode des Funktionalismus – das steht hier für das Neue Bauen – orientiert auf die Bestimmung des Gebrauchswertes und steht damit „faktisch im Gegensatz zum Produktionssinn des Kapitals, dem Profit[10].Unter kapitalistischen Verhältnissen geht es immer um die Verkaufbarkeit, den Tauschwert. Funktionalismus verweist auf Zentrum und Ziel des Produzierens, auf die Konsumtion. Damit ist er eindeutig als Grundprinzip sozialistischer gestalterischer Praxis bestimmt. Aber in den Dreißigern ist das neue Bauen unterlegen.[11]
Dazu schreibt 1932 der Schweizer Architekt Hans Schmidt: „Sowjetrussland fordert die Einordnung in die Generallinie der Revolution und Hauptpunkte gegen das Neue Bauen sind:
1. Die Ideen des Neuen Bauens … sind das Resultat des heutigen Kapitalismus, seiner rationalisierten und standardisierten Technik
2. Die Abkehr des Neuen Bauens von der Monumentalität und vom Symbol, seine Verleugnung der absoluten Schönheit, seine Unfähigkeit, die künstlerisch-ideologische Aufgabe zu erfüllen, sind Ausdruck für den Verfall der bürgerlichen Kultur.
3. Die idealistisch-utopische Richtung des Neuen Bauens (Le Corbusier) sucht wie die „linken Utopisten“ auf dem Gebiet der Politik notwendige Etappen auf dem Weg zum Sozialismus zu überspringen und wirkt dadurch im politischen Sinne gegenrevolutionär.
4. Es ist nicht das Ziel des Sozialismus, die kulturellen Werte der Vergangenheit zu vernichten, sondern im Gegenteil und im Gegensatz zum heute zerfallenden Kapitalismus diese Werte zu übernehmen und weiterzuführen.
… unter diesen Bedingungen ist der Rückschlag, den das Neue Bauen in der Sowjetunion heute erleidet, verständlich und bedauerlich, aber er beweist noch gar nichts gegen die Richtigkeit unserer Forderungen.“
Die Wirklichkeit der Dreißiger ist schärfster Klassenkampf innen und außen.
Im 2. Teil des Artikels wird die Rolle der Avantgarde in den Dreißigern weiter ausgeführt.
1 In: Ausstellungskatalog Berlin-Moskau Moskau-Berlin 1900–1950, 1995
2 S. Chan-Magomedow in: Avantgarde II, Sowjetische Architektur 1924–1937, 1993
3 Barbara Kreis: das Verhältnis der Avantgarde zu Tradition und Sozialismus, in: Avantgarde II 1924–1937, Sowjetische Architektur, Verlag Gerd Hatje, Stuttgart 1993
4 H. H. Holz: Zeichen der Gegenaufklärung, Irrationalismus – Moderne – Postmoderne, in Deutsche Ideologie nach 1945, Impulse 2003, S.119
5 L. Kühne: Stadt als ideologischer Organismus, in Deutsche Architektur 11, 1967
6 C. Schnaidt, in: Was man über das Bauhaus weiß, zu wissen glaubt und ignoriert, Fundus 83/84 VEB Verlag der Kunst, 1982
7 Elke Pistorius, der Architektenstreit nach der Revolution, S. 75. Birkhäuser Verlag 1992
8 s. Elke Pistorius: S. 84
9 Simone Hain, Dissertation 1986 – s. abschließende Thesen.
10 L. Kühne in: Gegenstand und Raum, S.75, VEB Verlag der Kunst, Dresden 1981
11 H. Schmidt, die SU und das Neue Bauen, in Pistorius s. o. S.140 ff.