Kurden in Syrien und im Irak gehen eigene Wege

Autonomie oder Abspaltung

Von Manfred Ziegler

Wollen Sie, dass die Region Kurdistan und die Gebiete außerhalb der Verwaltung der Region zu einem unabhängigen Staat werden?“ Über diese Frage stimmte die Bevölkerung in und um das kurdische Autonomiegebiet im Irak ab. Erwartungsgemäß stimmten über 90 Prozent derer, die an der Abstimmung teilnahmen, mit „Ja“. Ein wirklicher Schlusspunkt ist damit nicht gesetzt.

Seit 1991 gibt es eine faktische Autonomie, die durch die irakische Verfassung von 2003 gestärkt wurde. Enge internationale Beziehungen der kurdischen Regionalregierung bestehen unter anderem zu Russland und zu vielen europäische Ländern. Auch Deutschland unterhält seit 2012 ein Generalkonsulat in Erbil. Doch die politische und vor allem wirtschaftliche Situation im kurdischen Teil des Irak ist nach wie vor schwierig.

Tausende LKW liefern Tag für Tag Waren an die lokalen Märkte. Mehr als 80 Prozent der Waren, die hier verkauft werden, von Schuhen über Elektrogeräte bis hin zu Lebensmitteln, kommen aus dem Ausland. Ein großer Teil davon aus der Türkei und aus dem Iran. Umgekehrt hängen die Einkünfte der kurdischen Regierung von den Ölverkäufen ab – die über Pipelines in die Türkei erfolgen. So wurden zum Beispiel im November 2016 mehr als 17 Millionen Barrel Öl nach Ceyhan in der türkischen Provinz Adana exportiert.

Die enge wirtschaftliche Verknüpfung zwischen der Türkei und der kurdischen Regionalregierung macht beide Seiten anfällig für die Folgen von Sanktionen. Doch ein Gebiet, das die Mehrzahl aller Waren importiert, ist dem wirtschaftlichen Druck von Sanktionen unmittelbar ausgesetzt. Keine gute Voraussetzung für eine einseitige Unabhängigkeitserklärung.

Bisher herrschten beste Beziehungen zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Regionalregierung. Diese bestimmen auch das Verhältnis der kurdischen Regionalregierung gegenüber der kurdischen PYD in Syrien. Bei einem Treffen mit Abgeordneten der AKP in Erbil sprach der Präsident der Regionalregierung, Barzani, davon, die PYD sei „schlimmer als das Baath-Regime“.

Lange wurde der syrischen PYD vorgeworfen, sie arbeite mit dem „Regime“ zusammen, nicht zuletzt gegen die bewaffneten „Rebellen“, die von der türkischen Regierung unterstützt wurden. Tatsächlich gab es schon immer schwierige Beziehungen zwischen Regierung und kurdischen Organisationen und Unabhängigkeitsbestrebungen in Syrien.

Schon vor dem Regierungsantritt von Hafez al-Assad, Syriens Staatspräsident von 1971 bis 2000, gab es die Volkszählung von Hassaka, in der vorgeblich illegal nach Syrien eingereiste Kurden identifiziert werden sollten. Ihnen wurde die Staatsangehörigkeit entzogen, ein Problem, das über fast 50 Jahre fortbestand. Erst mit den Protesten von 2011 gab es ein Dekret des Präsidenten, das ihnen bzw. ihren Nachkommen die Staatsbürgerschaft wieder zuerkannte.

Kurdische Aktivitäten wurden behindert und auch gewaltsam verfolgt, während einzelne kurdische Politiker durchaus eine Rolle spielen konnten. Und der Vorsitzende der PKK, Abdullah Öcalan, fand lange Zeit Zuflucht in Syrien und konnte von dort aus die Aktivitäten der PKK organisieren.

Mit dem Beginn des Krieges gegen Syrien zog sich die Armee aus kurdischen Gebieten zurück, kurdische Einheiten übernahmen die Kontrolle. Vereinzelt gab es Phasen der Zusammenarbeit zwischen kurdischen Einheiten und der Armee, gelegentlich gab es bewaffnete Auseinandersetzungen, überwiegend herrschte eine distanzierte Koexistenz. Mit der Zusammenarbeit zwischen den SDF und der US-Armee sowie dem Wettlauf um Deir-Ezzor und die Grenze zum Irak ist diese Koexistenz gefährdet.

Die USA wollen weiterhin die syrische Regierung schwächen, wenn sie sie auch nicht stürzen können. Je größer die politische Distanz zwischen den kurdisch kontrollierten Gebieten und der Regierung in Damaskus ist, umso mehr entspricht das den US-Interessen an einer Umgestaltung des Nahen Ostens. Der Führer der Demokratischen Minderheit im US-Senat, Charles Schumer, hat nach dem Referendum Präsident Trump dazu aufgerufen, die kurdische Unabhängigkeit anzuerkennen. Russland dagegen – und seit der Annäherung an die russische Föderation auch die Türkei – haben kein Interesse an einem unkontrollierten Staatszerfall im Nahen Osten. Die russische Außenpolitik unterstützt allenfalls eine einvernehmliche Abtrennung der kurdischen Gebiete vom Irak

Die Abstimmung im irakischen Autonomiegebiet ergab eine große Mehrheit für die Gründung eines unabhängigen Staates. Aber wird es wirklich dazu kommen? Die Öl- und Gasindustrie mit ihren Milliardeninvestitionen hat wohl Interesse an stabilen Zuständen. Dient das Referendum also nur als Verhandlungsmasse im Streit um die Verteilung der Öl- und Erdgaseinkünfte und zur Sanierung des Haushalts der Kurdischen Regionalregierung?

Und in Syrien scheint sich die Regierung mit den Aktivitäten der SDF und den USA abzufinden, solange der IS in Syrien aktiv ist. Wenn aber dieser Feldzug beendet ist, wird sich im Gegenzug die Frage nach dem Status der kurdischen Gebiete erneut stellen. Die syrische Regierung verlangt den Abzug aller US-Truppen. Mit neu gewonnener Stärke verspricht sie den kurdischen Organisationen im Gegenzug Verhandlungen über einen Autonomiestatus innerhalb Syriens.

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"Autonomie oder Abspaltung", UZ vom 6. Oktober 2017



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